Gott, der uns Persönlichkeit verleiht

Gott, der uns Persönlichkeit verleiht

 (Jeremia 20,7−11a)

 

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen; du bist mir zu stark geworden und hast mich überwunden! So bin ich zum täglichen Gelächter geworden; jedermann spottet über mich!

 

Denn sooft ich rede, muss ich schreien, muss Gewalttat und Zerstörung ankündigen, sodass das Wort des HERRN mir Hohn und Spott einträgt die ganze Zeit. Da sagte ich mir: »Ich will Ihn nicht mehr erwähnen und nicht mehr in seinem Namen reden!« Doch da brannte es in meinem Herzen, als wäre ein Feuer in meinen Gebeinen eingeschlossen, und ich wurde müde, es auszuhalten; ja, ich kann es nicht. Denn ich habe die Verleumdungen vieler gehört: »Schrecken ringsum!« — »Zeigt ihn an!« und »Wir wollen ihn anzeigen!« Alle Leute, mit denen ich in Frieden lebte, lauern auf meinen Fall und sprechen: »Vielleicht lässt er sich überreden, und wir können ihn überwältigen und uns an ihm rächen!«

 

Aber der HERR ist mit mir wie ein starker Held; darum werden meine Verfolger straucheln und nicht die Oberhand behalten.

 

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Jeremia wurde für etwa vierzig Jahre als Prophet in Juda berufen, vom Ende des siebten Jahrhunderts bis zum frühen sechsten Jahrhundert v. Chr. Und somit erlebte er die bittere Realität des Untergangs Jerusalems (587 v. C) durch die Babylonier. Die Rolle eines Propheten im Alten Testament war die eines Boten, eines Vertreters Gottes, jemand, der eine Art Brückenfunktion zwischen Gott, Mensch und Welt hat. Die Aufgabe Jeremias war wahrscheinlich nicht einfach. Er musste das Wort der Wahrheit in einer sehr schwierigen politischen Situation verkünden. Das Volk Israel hatte sich von Gott abgewandt, es verehrte heidnische Götter, und dies hatte katastrophale Folgen, die Jeremia verkünden musste. Seine Verkündigungen brachten ihm jedoch viel Leid und große Verfolgung ein. Im heutigen Predigttext richtet der Prophet Worte der Klage an Gott. Er bringt sein eigenes Schicksal als Vertreter Gottes zum Ausdruck. Um die Worte des Propheten nachvollziehen zu können, möchte ich heute mit Ihnen kurz über Gott, Mensch und Welt nachdenken.

 

Zunächst zu Gott. Das erste, was mir zu Gott einfällt, ist, dass Gott unvermeidlich ist. Gott ist ein Gott, dem wir nicht entkommen können, in dem Sinne, dass es eine ganz besondere und tiefe Verbindung zwischen uns und Gott gibt. Man könnte sagen, dass Gott und Mensch zusammengehören. Die frühen Kirchenväter sprachen vom Ebenbild Gottes im Menschen, das meiner Meinung nach auch als das wahre menschliche Selbst beschrieben werden kann. Und wenn Sie fragen: „Warum ist Gott unvermeidlich?“, würde ich sagen, wahrscheinlich weil wir und die gesamte Schöpfung das Werk Gottes sind. Ein Bibelvers, der dies ausdrückt, ist Epheser 4,6: „Ein Gott und Vater aller, über allen und durch alle und in euch allen.“ (Epheser 4,6)

 

In diesem Sinne können wir auch die Worte des Psalms 139 verstehen:

 

„Wo sollte ich hingehen vor deinem Geist, und wo sollte ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Stiege ich hinauf zum Himmel, so bist du da; … Nähme ich Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder am äußersten Ende des Meeres, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten!“ (Ps. 139,7-10) 

 

Man könnte also sagen, Gott ist überall und sogar tief im Inneren des Menschen, auf eine Weise, die wir nicht vollständig begreifen oder erklären können.

 

Zweitens: der Mensch. Wer oder was ist der Mensch? Dieselbe Frage stellt der Autor des Psalms 8: „Was ist der Mensch, dass du an ihn gedenkst, und der Sohn des Menschen, dass du auf ihn achtest? Du hast ihn ein wenig niedriger gemacht als die Engel; mit Herrlichkeit und Ehre hast du ihn gekrönt.“ (Ps. 8,5-6)

 

Der Mensch ist derjenige, zu dem das Wort Gottes kommt, damit das Wort Gottes von ihm gehört und so wirksam werden kann. Somit ist in der gesamten Schöpfung diese Fähigkeit, das Wort Gottes zu hören und zu empfangen, nur dem Menschen gegeben. Dieses Hören und Empfangen des Wortes wollen wir heute als unser Gottesbewusstsein bezeichnen. Mit anderen Worten ist es unser Bewusstsein, dass es einen Gott gibt, und unsere Bereitschaft, in Übereinstimmung mit diesem Bewusstsein zu leben, was dann das Empfangen des Wortes ist. Dieses Bewusstsein wiederum gibt uns die Möglichkeit, Personen zu sein, nicht im allgemeinen Sinne des Wortes, wie wenn wir sagen, dass sich im Saal 100 Personen befinden. Sondern vielmehr im ganz besonderen Sinne von Personen, im Sinne von besonderen Persönlichkeiten, die uns von allen anderen oder von der Menschenmenge unterscheiden. Um es also klar auszudrücken: Es ist Gott, der uns Persönlichkeit verleiht, und somit ist Gott der Verleiher jeder Persönlichkeit. Aber was bedeutet das wirklich? Wir leben bereits in dieser Welt. Jeder von uns hat bereits sein oder ihr Leben, seinen oder ihren Charakter. Das ist so. Aber jedes Mal, wenn wir uns Gott öffnen, kommt unsere Persönlichkeit oder unser Charakter, zur Entfaltung. In diesem Sinne ist Gott derjenige, der Mut ermöglicht, den Mut, wir selbst zu sein, zu sagen und zu tun, was wir für richtig halten, ohne zu zögern, weil wir die Erwartungen oder Meinungen der Menschenmenge fürchten.

 

Daher können wir sagen, dass Gott in der Tiefe des Menschen so sehr gegenwärtig ist, sodass wir die Worte Jeremias, im Vers 9 des heutigen Predigttextes, verstehen können:

 

„Da sagte ich mir: »Ich will Ihn nicht mehr erwähnen und nicht mehr in seinem Namen reden!« Doch da brannte es in meinem Herzen, als wäre ein Feuer in meinen Gebeinen eingeschlossen, und ich wurde müde, es auszuhalten; ja, ich kann es nicht.“

 

Und so gehört auch das Leiden zu jeder Persönlichkeit. Ein Leben ohne Leid ist eine Fantasie. Denn wie können wir uns eine Mutter vorstellen, die nicht leidet, wenn ihr Kind krank ist, oder einen Vater, der nicht leidet, wenn sein Sohn weg ist? Leid ist Teil unserer Persönlichkeit, genauso wie unser Wohlbefinden und die Lebensfreude.

 

Und zuletzt die Welt! Wir sind Menschen, die in der Welt leben. Und die Welt ist nicht gegen Gott. Wenn wir sagen, dass Gott hinter allem steht, bedeutet das, dass Gott die Welt liebt. Wir sind weltliche Menschen mit spirituellen Bestrebungen und dem Potenzial, zu Gott aufzuschauen. Und doch sind wir in der Welt versucht, das Wort Gottes zu ignorieren. Denn es ist nicht immer einfach, das Wort Gottes zu hören und zu empfangen. Wir neigen eher dazu, das Wort Gottes zu vernachlässigen, als es uns anzueignen, nicht weil wir nicht gut genug sind. Sondern weil es uns oft leichter fällt, das Wort zu vermeiden. Es ist oft einfacher, sich mit der Welt zufrieden zu geben und den größeren Verantwortlichkeiten aus dem Weg zu gehen, die das Wort Gottes uns auferlegt.

 

Und hier können wir auch sehen, dass der Prophet derjenige ist, der sich dafür entscheidet, Gott und Gottes Wort gegenüber offen zu sein, das Wort Gottes zu hören und es zu empfangen. Diese Schwierigkeit, das Wort zu hören und zu empfangen, erreicht im Leben und Sterben Jesu Christi ihren Höhepunkt. Deshalb sagen wir, dass Jesus Christus nicht nur das Wort gehört und empfangen hat, sondern selbst das Wort Gottes für uns ist. Und er beschrieb die Schwierigkeit und Verlegenheit dieses Weges mit den Worten, die wir in der Schriftlesung gehört haben:

 

„Die Füchse haben Gruben, und die Vögel des Himmels haben Nester; aber der Sohn des Menschen hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ (Lukas 9,58)

 

Und es ist aber so, dass wir uns immer dann, wenn wir uns für Gott entscheiden, auch für uns selbst entscheiden. In der Vergangenheit, und vielleicht auch heute noch, wird allgemein angenommen, dass Menschen, die an Gott glauben, schwach bzw. ihrem freien Willen beraubt sind. Dass es Menschen sind, die ihr Leben und ihren Willen für einen höheren Zweck aufgegeben haben. Das stimmt aber nicht. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, denn Gott ist derjenige, der „uns“, „mich“ und „dich“ möglich macht. Wenn wir uns für Gott entscheiden, entscheiden wir uns für Mut, wir entscheiden uns für Freiheit, für Frieden und Liebe. Und das sind keine leichten Entscheidungen, sondern vielmehr die Herausforderungen eines Lebens im Glauben, eines Lebens in der Nachfolge Jesu.

 

Ich möchte, liebe Gemeinde, mit diesen Worten die Predigt schließen. Die Kirche ist nicht gegen die Welt und die Menschheit. Die Kirche ist vielmehr das Zeichen, das Sinnbild dessen, was die Menschheit werden wird. Die Kirche ist in dieser Hinsicht der Sinn der Welt, ihr Ziel und ihre Zukunft. „Die Kirche ist das Herz der Welt, auch wenn die Welt ihr Herz ignoriert.“[1] So vertritt die Kirche, die das Wort Gottes hört und empfängt, die Welt, bis Welt und Kirche zusammenkommen und sich vereinen, durch den Geist Gottes, den Geist Jesu Christi. Amen.

 

Sylvie Avakian

23.03.2025

Matthäuskirche

 

[1] George Khodr, “Even if the World Ignores its Own Heart” The Orthodox Church in America, vol. 43, n. 5 (2007), 6.