Priester für einander
(Hebräer 4, 14-16)
Da wir nun einen großen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis!
Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der kein Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern einen, der in allem versucht worden ist in ähnlicher Weise [wie wir], doch
ohne Sünde.
So lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe!
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Heute ist der erste Sonntag in der Passionszeit, in der wir uns auf den Tod Jesu vorbereiten. Im Kirchenjahr kommt dies der Feier seiner Geburt ziemlich nahe, die erst vor etwa 10 Wochen war. So sagt uns das Kirchenjahr, dass beides eng miteinander verbunden ist: Leben und Tod. Und für diesen Sonntag ist der Text aus dem Hebräerbrief, den ich gerade vorgetragen habe, als Predigttext vorgesehen, in dem Jesus als großer Hohepriester beschrieben wird. Sollen wir denn versuchen, uns an Jesu Tod dadurch zu orientieren und vorzubereiten, dass wir Jesus als unseren Priester betrachten?
Der Verfasser des Hebräerbriefes ist unbekannt. Der griechische Kirchenvater Origenes schrieb im 3. Jahrhundert: „Nur Gott allein weiß, wer den Brief geschrieben hat.“ Die Adressaten werden im Brief ebenfalls nicht ausdrücklich genannt. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Gemeinde in Rom. Es waren jüdische Christen, die sich (Ende des 1. Jahrhunderts) in einer Verfolgungssituation befanden. Der Brief will sie ermutigen, in ihrem Glauben auszuharren. Hier kann festgestellt werden, dass die Figur des Hohepriesters im gesamten Brief von zentraler Bedeutung ist.
Eine Hauptaufgabe eines Priesters im Alten Testament bestand darin, im Tempel Opferhandlungen durchzuführen. Gott Opfer darzubringen, hatte eine transformative Rolle im Leben der Menschen und sollte sie von einem Zustand der Sünde in einen Zustand der Rechtfertigung und Annahme durch Gott versetzen. So lesen wir im dritten Buch Moses: „Denn das Blut ist es [und hier ist das Blut eines Opfers gemeint], das Sühnung erwirkt für die Seele“ (3.Mose 17,11).
Aber was ist so besonders oder wichtig für uns heute daran, dass Jesus Christus Priester ist, und sogar „ein großer Hohepriester“, wie der Predigttext ihn beschreibt?
Für mich liegt die Einzigartigkeit Jesu Christi als Hohepriester darin, dass er jemand ist, mit dem ich mich / wir uns identifizieren können.
Sein Priestertum ist nicht die Art von Priestertum, zu dem die Menschen keinen Zugang haben oder dem sie sich nicht nähern können. Der Hohepriester Israels zum Beispiel durfte sich nicht unter das gemeine Volk mischen. In der Geschichte der Kirche gab es auch viele Priester, und wahrscheinlich waren nicht alle von ihnen für die Menschen zugänglich, oder nicht alle waren Priester, mit denen sich die Menschen identifizieren konnten. Was ich damit sagen möchte, ist, dass die Demut Jesu etwas ganz Besonderes war, das es ihm ermöglichte, eine andere Art von Priester zu sein, und dies wiederum erlaubte es ihm, am Leid der Menschen teilzuhaben. Und er ist derjenige, der über sich selbst sagte: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Matthäus 11:29). Und ich glaube, dass Demut so wichtig ist, weil sie der Anfang davon ist, Schmerz und Leid auf sich zu nehmen, Leiden zu akzeptieren. Liebe Gemeinde, es ist unser Leid, oder Schmerz, das uns mit anderen Menschen zusammenbringt. Und so ist es auch mit dem Schmerz und Leid Jesu Christi. In seinem Leid sind wir vereint.
Demut bietet uns aber nicht nur die Möglichkeit, für andere zugänglicher und ansprechbarer zu sein, sondern ist auch der Beginn von Größe und Würde. Man könnte sagen: Der demütige Mensch ist auf dem Weg zur Größe. Ohne Demut könnte jede Größe leer sein, ohne Inhalt, etwas, das nur zur Schau gestellt wird, aber nicht verstanden oder angeeignet werden kann.
Auf diese Weise wird deutlich, wie Demut uns dabei hilft, die meisten Versuchungen zu vermeiden, denen wir im Leben begegnen könnten. Höchstwahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die
drei Versuchungen, denen Jesus ausgesetzt war, und von denen wir in der Schriftlesung gehört haben, mit Essen, Macht und Reichtum zu tun haben. „Sprich, dass diese Steine Brot werden!“ ist die
Versuchung, das essen zu wollen, worauf man verzichten kann. „Stürze dich hinab; … die Engel werden dich auf den Händen tragen.“ Ist die Versuchung der Macht. Du kannst alles tun, was du willst,
alles ist erlaubt und dir wird nichts Schlimmes passieren. “Dieses alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest!“ Und das ist die Versuchung des Reichtums. Die Weltreiche und
ihre Herrlichkeit werden dir gehören. Sind das nicht Versuchungen, denen die Menschen in der Welt auch heute gegenüberstehen? Es war, glaube ich, die Demut Jesu, die ihm half, diesen Versuchungen
zu widerstehen, ohne zu fallen.
Wie können wir aber Demut verstehen? Heute möchte ich Demut als die Bereitschaft, die Bereitschaft und den Willen beschreiben, alle Grenzen aufzugeben, die dazu da sind, unsere sichere Zone zu schützen; Grenzen, die uns daran hindern, Gott und andere Menschen zu sehen oder für andere da zu sein.
Jesus gab alle Grenzen auf, die ihn daran hätten hindern können, sich Gott und anderen zu nähern. Und auf diesem Weg gab er sogar sein Leben, das das Kostbarste ist, was man besitzen
kann. Andere Priester brachten oder bringen Gott Gaben dar. Jesus gab sich selbst und darin liegt seine Größe. Die höchste Demut ist dann zugleich die höchste Größe. Aber wie funktioniert dieses
Sich-selbst-Geben? Ich würde sagen, durch und nur durch Liebe. Liebe gibt sich selbst für den Geliebten hin. Ohne Demut gibt es auch keine Liebe, und ohne das Aufgeben der Grenzen, wäre die Liebe
nicht möglich. Denn innerhalb der Grenzen ist und bleibt der Mensch einsam, auch wenn er Macht und Reichtum hat.
Heute feiern wir, liebe Gemeinde, gemeinsam das Abendmahl. Wir tun dies als Zeichen dafür, dass wir den Leib Jesu Christi teilen, das heißt, wir teilen das Opfer Jesu Christi. Dies
ermöglicht uns wiederum, den gleichen Weg wie Jesus Christus zu gehen. Den Weg der Liebe und der Demut. Den Weg der Grenzaufhebung. So ist Jesus Christus ein solcher Priester, der uns in die Lage
versetzt, selbst Priester zu werden, Priester für einander, das heißt, ohne Grenzen, ohne Hindernisse vor Gott und anderen zu stehen. Somit ist Jesus Christus ein Priester, der aus uns Priester
macht, und das meinen wir, wenn wir sagen, dass wir an das Priestertum aller Gläubigen glauben. Und so schreibt Martin Luther: „Priester zu sein ist noch viel mehr als König sein“, „darum, dass
das Priestertum uns würdig macht, vor Gott zu treten und für andere zu bitten. Denn vor Gottes Augen zu stehn und zu bitten, gebührt niemand denn den Priestern. Also hat uns Christus erworben,
dass wir können geistlich voreinander treten und bitten, wie ein Priester vor das Volk leiblich tritt und bittet. (Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen
(1520)
Zum Schluss, liebe Gemeinde, möchte ich zurück zu meinem Satz, dass die Einzigartigkeit Jesu Christi als Hohepriester darin liegt, dass wir uns mit ihm identifizieren können.
Aber wie können wir dies tun?
Jesus Christus ist das vollkommene Ebenbild Gottes, nach dem wir alle geschaffen sind und zu dem wir streben dürfen, um zu wachsen. In uns ist das Ebenbild Gottes nicht vollkommen, aber eine Skizze vielleicht, ein Entwurf davon ist uns gewährt. Er ist wahrhaftig der Sohn Gottes, der uns zu Töchtern und Söhnen Gottes macht. Und genau deshalb, weil wir uns mit Jesus Christus identifizieren dürfen, können wir, nicht nur an seinem Leid, aber auch an seiner Kraft und seiner Gnade teilhaben. Das bedeutet, dass Gott, oder die Kraft Gottes, die Gnade Gottes, immer für uns da ist, wenn wir Gott unser Herz öffnen, sodass uns damit rechtzeitig geholfen wird, wie uns der Predigttext sagt. So haben wir gelesen: „So lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden zu rechtzeitiger Hilfe!“ In dem Moment, in dem wir mit Christus vereint sind, wird uns die Kraft eines Neuanfangs gegeben, als ob alle Unzulänglichkeiten der Vergangenheit, ihre Versäumnisse und Misserfolge nicht mehr da wären, sondern nur noch die Chance auf einen Neuanfang, auf ein besseres Leben.
So sind in Jesus Christus die Tiefe und die Höhe, die Schwäche und die Stärke, das Menschliche und das Göttliche vereint, und so ist er wahrhaftig unser großer Hohepriester.
Amen.
09.03.2025
Sylvie Avakian
Matthäus Kirche