Der Weg der Fürsorge

Der Weg der Fürsorge

(Prediger 7,15-18)

 

Dies alles habe ich gesehen in den Tagen meiner Nichtigkeit: Da ist ein Gerechter, der umkommt in seiner Gerechtigkeit, und dort ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit.

 

Sei nicht allzu gerecht und erzeige dich nicht übermäßig weise! Warum willst du dich selbst verderben? Sei aber auch nicht allzu gesetzlos und sei kein Narr! Warum willst du vor deiner Zeit sterben? Es ist am besten, du hältst das eine fest und lässt auch das andere nicht aus der Hand; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem allem.

 

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Der Autor dieses Buches, das Prediger genannt wird, ist ein unbekannter jüdischer Weiser aus der nachexilischen Zeit. Das Buch wurde höchstwahrscheinlich im 3. Jahrhundert v. Chr. verfasst. Der Autor stand im Einklang mit der Weisheitsbewegung des alten Orients. Das Buch vermittelt einige pragmatische Weisheiten und Ratschläge, die auf Alltagserfahrungen basieren und darauf abzielen, das Leben möglichst unbeschwert zu gestalten und Glück zu verschaffen.

 

Der Verfasser beginnt den heutigen Predigttext mit einer Frage oder eher mit einer Bemerkung, die auch für uns heute relevant ist: „Da ist ein Gerechter, der umkommt in seiner Gerechtigkeit, und dort ist ein Gottloser, der lange lebt in seiner Bosheit.“ Das gilt auch für uns heute, und wir können immer noch fragen, warum? Warum geht ein Gerechter in seiner Gerechtigkeit zugrunde und ein Gottloser lebt lange in seinem bösen Tun? Und am Ende denke ich, dass wir dies so akzeptieren müssen, wie es ist, zumindest zu einem großen Teil. Das Leben kann sehr ungerecht sein und dennoch müssen wir uns um Gerechtigkeit bemühen. Aber wie?

 

In der Theologie glaubte man früher, dass Gott die Guten belohnen und die Bösen bestrafen wird. Heute bringt uns aber unser christliches Leben und unsere Erfahrung zu der Überzeugung, dass ein Leben im Glauben und Vertrauen auf Gott ebenso wie jedes andere Leben Schmerzen, Leid und Ungerechtigkeit ausgesetzt ist, und vielleicht sogar noch größeren Schmerzen. Unser christliche Glaube lehrt uns, dass Gottes Kraft und Gottes Heil von anderer Art sind als die der Welt. Daher wird dem Gerechten, der in der Welt leidet, eine Kraft im Herzen gegeben, eine Kraft, die es ihm ermöglicht, allen Schmerz zu ertragen und angesichts aller Wellen und Stürme im Leben standhaft zu bleiben.

 

Als Nächstes gibt der Autor des Textes seinen Lesern einen Rat, wie man in Bezug auf die Frage der Ungerechtigkeit leben und handeln soll, und hier erkennen wir, dass seine Antwort für uns heute unzureichend ist. Er rät seinen Lesern, einen Mittelweg im Leben einzuschlagen, einen Weg, der mit Ungerechtigkeit umgehen kann, und damit auch das eigene Wohlbefinden schützt, unabhängig von den Folgen eines solchen Umgangs für andere: „Sei nicht allzu gerecht … Sei aber auch nicht allzu gesetzlos … Es ist am besten, du hältst das eine fest und lässt auch das andere nicht aus der Hand“ schreibt er. Man könnte diesen Rat für wahr und hilfreich halten, und tatsächlich wird er oft, auch heute noch, dadurch populär gemacht, dass die Extreme verurteilt werden, die außerhalb des von der Mehrheit verfolgten Mainstream-Trends liegen. Mit anderen Worten besagt dieser Rat: Man soll nicht versuchen, perfekt zu sein, da dies unmöglich ist. Aber man soll auch nicht übermäßig böse sein. Die Mitte kann Extreme vermeiden. Obwohl diese Worte für uns logisch klingen mögen, fehlt meiner Meinung nach etwas in ihnen, etwas, das nur Jesus uns geben kann. Aber bevor wir uns Jesus durch die heutige Schriftlesung ansehen, gibt es ein Element in diesem Text, das wir meiner Meinung nach beachten sollen. Und um darauf zu kommen, möchte ich Ihnen einen Witz erzählen:

 

„Ein Jude kommt zum Rabbi und führt Klage gegen seinen betrügerischen Lieferanten. Der Rabbi hört aufmerksam zu und erklärt dann: ‚Du hast recht.‘ Bald danach kommt der beschuldigte Lieferant und klagt seinerseits über den Ankläger. Der Rabbi hört wieder sehr aufmerksam zu und sagt abermals: ‚Du hast recht.‘ Die Frau des Rabbiners hat beide Entscheide mit angehört, und als der Lieferant weggegangen ist, sagt sie vorwurfsvoll zu ihrem Manne: ‚Es können doch niemals beide recht haben!‘ Da gibt der Rabbi zu: ‚Du hast auch recht.‘“[1]

 

Und im Predigttext schreibt der Autor: „Sei nicht allzu gerecht und erzeige dich nicht übermäßig weise!“

 

Ich möchte diese Worte so verstehen, dass wir nicht immer davon ausgehen sollen, im Recht zu sein, sondern dass wir in der Lage sein sollen, den anderen zu sehen, den anderen zu verstehen. Auf diese Weise kann man die Extreme vermeiden, denn diese sind oft das Ergebnis der Unfähigkeit, den Standpunkt des anderen zu sehen.

 

Aber selbst dieser Punkt bringt mich zu Jesus und zu der heutigen Schriftlesung (Joh. 8,2–11).

 

„Da brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau zu ihm, die beim Ehebruch ergriffen worden war, stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: … Im Gesetz … hat uns Mose geboten, dass solche gesteinigt werden sollen. Was sagst nun du?

 

Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“

 

Dies ist der einzige Ort in der Bibel, an dem wir lesen, dass Jesus etwas schreibt. Was hat er auf die Erde geschrieben?

 

„Als sie nun fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie! Und er bückte sich wiederum nieder und schrieb auf die Erde.“

 

In dieser Erzählung beschritt Jesus nicht den Mittelweg. Der Mittelweg wäre, sich dem Gesetz und denen, die es für sich beanspruchen, anzupassen. Jesus wählte einen anderen Weg.

 

Die Frage, die sich uns heute stellt, ist, ob wir einem vorgegebenen Weg folgen müssen, sei es der Mittelweg oder ein anderer vorgesehener Weg.

 

Und hier sprechen wir von einem Mittelweg, einem Weg, der versucht, extremen Übeln zu entkommen und gleichzeitig die Härten des Lebens zu vermeiden. Ein solcher Weg scheint vor allem attraktiv zu sein, weil er verspricht, ein glückliches Leben zu ermöglichen; ein Leben ohne große Herausforderungen; eine Art sorgloses Leben, in der heutigen Alltagssprache ein „cooles“ Leben. Das ist auch, was der Predigttext nahelegt. Wenn wir aber die Erzählung über Jesus und die Frau im Johannesevangelium lesen, erkennen wir, dass Jesus keinen Mittelweg einschlägt, keine Art Mainstream-Ansatz, damit er in seinem Leben keine Probleme hat. Stattdessen, seine Wahl, und sein Weg war ein Weg der Fürsorge. Er sah die Frau, die in der Rolle der Angeklagten, der Beschuldigten stand, und er wollte ihr eine neue Chance geben, eine neue Möglichkeit öffnen, frei zu sein, eine Möglichkeit für ein neues Leben. Und in der Tat wissen wir, dass diese Entscheidung Jesu, neben anderen ähnlichen Fällen, ihm viel Schmerz und Leid durch die Obrigkeit bereiteten. Dennoch ist dies der Weg, der Gerechtigkeit ermöglicht, der den anderen und sich selbst zum freien Menschen macht. Und so erkennen wir, dass der Predigttext für uns heute nicht ohne die Geschichte Jesu, für sich allein stehen kann. Ich würde es heute so formulieren: Der Weg der Mitte ist ein Weg, der von vielen beschritten wird, aber wenn du kannst, folge dem Weg Jesu; dem Weg der Fürsorge.

 

 

 

Nur der Weg der Fürsorge macht Gerechtigkeit möglich, denn jeder braucht eine zweite Chance. In diesem Sinne bedeutet Gerechtigkeit, dass jeder Mensch ein Recht auf ein gutes Leben hat, jeder hat das Recht auf ein Leben in Würde. Gerechtigkeit ist daher nicht im herkömmlichen Sinne von Lohn und Strafe zu verstehen, d. h. wenn man etwas Gutes tut, wird man belohnt, und wenn nicht, wird man bestraft. Gerechtigkeit im weiteren Sinne betrachtet die Lebenssituation der Menschen in der Welt. Sie hinterfragt die allgemein ungerechte Situation derer, die viel mehr haben, als sie brauchen, und auf der anderen Seite die vielen, die unter ungerechten Lebensbedingungen leiden, mit dem Ziel, allen Leben und Wohlergehen zu ermöglichen. Ein solcher Weg ist in keiner Weise ein vorbestimmter Weg, ein Weg, der klar festlegt, welche Lebensweise und welches Verhalten gut sind, selbst wenn es der Mittelweg ist. Denn jede Festlegung einer Art, „gut“ zu sein, ist ein Untersagen und Ausschließen einer anderen Art, zu sein und zu existieren. So ist beispielsweise jede Hervorhebung einer bestimmten Kultur, oder einem bestimmten Nation, eine Art Abwertung einer oder eines anderen.

 

Nur der Weg der Fürsorge öffnet Türen und Fenster für Gerechtigkeit; Gerechtigkeit, die bedeutet, dass jeder die Chance auf ein gutes Leben hat. Wie kommen wir auf diesen Weg? Dieser Weg führt durch das Herz, und mit den Augen des Herzens können wir eine ungerechte Situation erkennen und uns für Gerechtigkeit einsetzen.

 

Können wir auch zu denen, die die Gesellschaft als fehlgeleitet ansieht, die Worte Jesu sprechen? „So verurteile ich dich auch nicht. Geh hin und sündige nicht mehr!“ Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

16.02.2025

 

 

[1] Salacia Landmann: Jüdische Witze, München 81966, 89.