Der Geist, der in uns brennt
(Römer 12,9-16)
Die Liebe sei ungeheuchelt! Hasst das Böse, haltet fest am Guten! In der Bruderliebe seid herzlich gegeneinander; in der Ehrerbietung komme einer dem anderen zuvor! Im Eifer lasst nicht nach, seid brennend im Geist, dient dem Herrn! Seid fröhlich in Hoffnung, in Bedrängnis haltet stand, seid beharrlich im Gebet! Nehmt Anteil an den Nöten der Heiligen, übt willig Gastfreundschaft! Segnet, die euch verfolgen; segnet und flucht nicht! Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! Seid gleich gesinnt gegeneinander; trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen; haltet euch nicht selbst für klug!
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Der heutige Predigttext ist so ein reichhaltiger Text, dass man viele Predigten darüber schreiben kann. Aber keine Sorge, heute gibt es nur eine Predigt:) Und das ist kein Wunder. Der
Brief an die Römer kann als der wichtigste Brief des Apostels Paulus betrachtet werden, in dem er sein ganzes theologisches Denken zum Ausdruck bringt. Paulus schreibt den Brief in den fünfziger
Jahren des 1. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit hatte er Rom noch nicht besucht, obwohl er Rom schon früher besuchen wollte. So ist dieser Brief der einzige, den Paulus an eine Gemeinde schreibt, die
er nicht selbst gegründet hat.
Im ersten Vers des heutigen Predigttextes lesen wir, dass Menschen das Böse verabscheuen und am Guten festhalten sollen. Und hier können wir uns fragen: Wie sollen wir immer wissen, was gut ist? Woran sollen wir festhalten? In unserem Alltag treffen wir oft Entscheidungen, ohne viel Zeit oder Gedanken darauf zu verwenden. Wie sollen wir dann zwischen Gut und Böse unterscheiden? Gibt es dafür ein Maß oder sollen wir einfach der Mehrheit in der Gesellschaft folgen, nach dem Motto „Wenn es alle so machen, dann machen wir es auch so“? Liebe Gemeinde, diese Frage ist in unserer Zeit sehr wichtig, da von allen Seiten Versuche unternommen werden, festzulegen und anderen vorzugeben, was gut und was böse ist. Als Christinnen und Christen sind wir jedoch aufgerufen, unsere Maßstäbe und Werte, für die wir wahrhaftig stehen können, selbst zu denken und uns dafür zu entscheiden.
Was kann dann ein solcher Maßstab für uns sein?
Wir lesen weiter im Text. Da begegnen uns Empfehlungen oder Worte, die uns Orientierung geben könnten: „seid fröhlich in Hoffnung, in Bedrängnis haltet stand, seid beharrlich im Gebet!“ Aber auch hier fragen wir uns manchmal, wie? Wie sollen wir immer die Hoffnung bewahren, oder in der Zeit der Bedrängnis standhalten? Mir scheint, dass es im Text zwei Anhaltspunkte gibt, die uns weiterhelfen können. Der erste Schlüsselgedanke wird in diesen Worten ausgedrückt: „seid brennend im Geist“. „Brennend im Geist“, manchmal sagen wir, dass jemand wutentbrannt ist, oder vor Liebe, vor Eifer brennt. „Brennend“ bedeutet auch „leidenschaftlich“ zu sein, „enthusiastisch“, „lebendig“, „dynamisch“, „angetrieben“, „vom Geist ergriffen“. Diese Beschreibungen, was der Geist mit oder in uns tun kann, könnten den Eindruck einer Art wundersamer oder übernatürliche Erfahrung erwecken. Aber das ist es nicht. Und ein solches Verständnis der Rolle des Geistes ist oft ein Missverständnis. Natürlich kann man jedes Detail des Lebens als Wunder beschreiben. Das ist völlig in Ordnung, aber das Brennen des Geistes in uns hat oft nichts mit übernatürlichen Erfahrungen zu tun, sondern eher mit Demut und Entäußerung des Selbst, d.h. ein Freimachen von Selbstbezogenheit, was mich zum zweiten Bezugspunkt im Predigttext bringt.
Ich werde versuchen, diese Aussage zu erklären, nämlich dass das Brennen des Geistes in uns mit Demut und Entäußerung des Selbst verbunden ist. Das Wort „Geist“ bezieht sich im Neuen Testament auf den Heiligen Geist, d. h. den Geist Gottes (die dritte Person des dreieinigen Gottes), aber es wird auch als Geist Christi verwendet. Es kann auch den Geist der Wahrheit oder sogar den menschlichen Geist bedeuten. Und wenn wir zu den Anfängen der Bibel zurückgehen, lesen wir, dass Gott dem Menschen seinen Atem gab, damit er/sie ein lebendiges Wesen wurde, und somit können wir auch sagen, dass der Geist ein lebensspendender Geist ist.
Es ist jedoch sehr wichtig, immer daran zu denken, dass der Geist kein materielles Ding ist. Daher kann niemand behaupten, den Geist ganz zu besitzen. Im Gegensatz dazu kann der Geist erfahren oder durch die Entäußerung des Selbst angestrebt werden. Und jetzt können Sie fragen: Was hat die Entäußerung des Selbst mit dem Geist zu tun? Entäußern bedeutet auf etwas verzichten, und sich entäußern heißt dann auf Dinge im Leben verzichten können. Hier kann ich das Beispiel eines Glases Wasser anführen. Wasser ist ein materielles Ding, es hat Gewicht und nimmt Raum ein. Wenn das Glas also mit Wasser gefüllt ist, bleibt nicht viel Platz für Luft. Ist das Glas jedoch leer, dann können wir sagen, dass sich im Glas einfach nur Luft befindet, die zwar da ist, aber nicht gemessen werden kann; Luft, die man nicht sehen und nicht wiegen kann. So etwas ist der Geist. Er wohnt in uns, wenn wir Platz für ihn schaffen. Wenn wir uns von Stolz und Selbstbezogenheit, vom Verlangen nach Macht und Kontrolle befreien, kommt der Geist und wohnt in uns. Der Geist also kontrolliert nicht. Er beansprucht keine Macht und erzwingt keine Autorität. Der Geist ist frei und lässt frei.
In diesem Sinne ist der Geist bescheiden und kann durch die Entäußerung des Selbst angestrebt werden. Und wenn wir in unserem Herzen auf Dinge verzichten können, liegt darin unsere Freiheit. Auf diese Weise können wir unsere Beziehung zu Gott verstehen. Gott ist Geist. Gott kontrolliert nicht, Gott zwingt seine Macht nicht auf. Gott kann erfahren werden, kann angestrebt werden, indem wir Gott in unseren Herzen Platz schaffen. Gott ist frei und macht frei und wir können sagen, dass Gott die Freiheit ist.
Und hier können wir verstehen, wie Glaube und Religion über Jahrhunderte hinweg missbraucht worden sind, um im Namen Gottes Macht und Autorität zu beanspruchen und Kriege zu führen.
Brauchen wir denn Gott? Ich meine ja.
Wer mit sich selbst zufrieden ist, denkt, dass er alles hat und ist, was er braucht. Aber das ist eine Illusion, liebe Gemeinde. Wir lernen uns selbst besser kennen, wenn wir Gott in unseren Herzen Platz machen. Wissen Sie, warum? Weil wir selbst nicht nur Leib, Fleisch und Knochen sind. Wir tragen den Atem Gottes in uns, und das gilt auch für jeden anderen Menschen.
Durch den Bezug auf den Geist bin ich dann bereits zum zweiten Anhaltspunkt gekommen, der eng mit dem ersten verbunden ist, nämlich der Demut.
Und so heißt es im Predigttext: „trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen; haltet euch nicht selbst für klug!“. Hier finde ich besonders die
Neue Genfer Übersetzung schön: „Seid nicht überheblich, sondern sucht die Gemeinschaft mit denen, die unscheinbar und unbedeutend sind. Haltet euch nicht selbst für klug.“ Und hier geht es nicht
darum, dumm zu sein, sondern sich nicht für klug zu halten. Hochmut, liebe Gemeinde, hindert uns daran, uns Gott zu nähern. Er hindert uns daran, uns anderen zu nähern. Hochmut macht uns sogar
uns selbst fremd, weil er uns glauben lässt, was wir in Realität nicht sind.
Daher können wir sagen, dass der Geist unser Maßstab ist, der Geist, der uns hilft, demütig zu sein. Und wir erkennen, dass der Geist kein fester Maßstab ist, weil er uns in jeder Situation auf unterschiedliche Weise zur Freiheit antreibt. Der Geist treibt uns dazu an, ungeheuchelt zu lieben und Gastfreundschaft zu üben. Ja, der Geist brennt in uns, und wir werden vom Geist ergriffen, nicht auf übernatürliche Weise, sondern indem wir das Gute wollen, wählen und darauf bestehen, selbst wenn das erfordert, dass wir den schwierigste Weg im Leben gehen. Der Geist brennt in uns und gibt uns die Kraft, in Schwierigkeiten zu bestehen und sogar diejenigen zu segnen, die uns verfolgen. Der Geist brennt in uns und gibt uns Hoffnung, die nicht aus unseren eigenen Fähigkeiten herauskommt, sondern von Gott; dem Schöpfer und Spender des Lebens.
Schließlich, liebe Gemeinde, ist es der Geist, der uns in die Lage versetzt, einander mit brüderlicher Zuneigung zu lieben, denn der Geist vereint allen.
Wissen Sie, wo wir dasselbe Wort als „Brennen des Herzens“ in den Evangelien wiederbegegnen? Wir lesen es im Lukasevangelium, als die Jünger am Tag der Auferstehung Jesu auf dem Weg nach Emmaus einem Fremden begegnen. Als der Fremde sich ihnen beim Abendessen anschließt und mit ihnen das Brot bricht, lesen wir, dass die Jünger zueinander sprachen: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Weg, und als er uns die Schriften öffnete?“
Möge der Geist Gottes immer in uns brennen, damit wir in jedem anderen Gesicht das Antlitz Christi sehen. Amen.
Sylvie Avakian
19.01.2025