Das heilbringende Licht
(Matthäus 4,12-17)
(Investitur- Kreuzkirche)
Da nun Jesus hörte, dass Johannes gefangen gesetzt worden war, zog er sich nach Galiläa zurück. Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in Kapernaum, das am Galiläischen Meer liegt im
Gebiet von Sebulon und Naftali, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht:
»Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das Galiläa der Heiden, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und
denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.«
Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
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Der Predigttext erzählt über den Beginn des Wirkens Jesu. Wichtige Hinweise darauf sind die Faktoren Zeit und Ort im Text. So lesen wir, dass Jesus seine Mission beginnt, direkt, nachdem er erfährt, dass Johannes der Täufer verhaftet wurde.
Nach seiner Versuchung in der Wüste kehr Jesus also nach Galiläa zurück. Er verlässt die Stadt Nazareth, sein Elternhaus, und kommt nach Kapernaum. Beide Orte, sowohl Nazareth als auch Kapernaum lagen in Galiläa, dem nördlichen Teil Israels. Nachdem er Nazareth verlässt, wird dann das kleine Dorf Kapernaum Jesu zweite Heimat. Der Predigttext deutet die Ereignisse im Leben Jesu als Erfüllung einer Prophetie des Propheten Jesaja. Um die Worte des Propheten Jesaja zu verstehen, müssen wir ins 8. Jahrhundert vor Christus zurückgehen. Im 8. Jahrhundert v. Chr., als die Assyrer durch das Land zogen, waren diese Regionen, die zwei der zwölf Stämme Israels, Sebulon und Naftali, zugeteilt worden waren, die ersten, die von der zerstörerischen Macht der Assyrer getroffen wurden. Zu dieser tragischen Zeit der Unterdrückung sprach der Prophet Jesaja Worte der Hoffnung (Jesaja 8:23-9:1), die wir im Predigttext lesen:
»Das Land Sebulon und das Land Naftali, … das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen im Land und Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.«
Diese Elemente von Zeit und Ort stehen für die Bedingungen der Existenz in der Welt. Die Mission und die Botschaft der Hoffnung, die durch Jesus und vor ihm durch die Propheten
verkündet wird, ist also keine Botschaft, die außerhalb der Grenzen unserer Realität in der Welt bleibt, sondern sie berührt unsere Existenz in ihren tieferen Wurzeln, im Hier und
Jetzt.
Was ist dann die Botschaft, die Jesus mit dem Beginn seines Wirkens bringt? Was kann dieses Licht, von dem wir im Text lesen, für Menschen tun, die unter Finsternis, Krieg, Tod, Chaos und dem Verlust aller Werte gelitten haben, oder die, die immer noch leiden? Ich kann mir vorstellen, dass ein solches Licht eine heilende Kraft haben soll, nicht nur um die Ordnung wiederherzustellen oder als Licht der Vernunft zu wirken, denn Ordnung und Rationalität sind notwendig, aber nicht ausreichend für einen Neuanfang. Heilung ist notwendig; Heilung der Wunden der Vergangenheit, Heilung der Werke der Finsternis, Heilung der Erinnerungen; Erinnerungen an Schmerz, an Krankheit, an Verlust, an Feindschaft, an Unwissenheit. Heilung ist notwendig für einen Neuanfang; einen Anfang im Licht.
Und so ist es das Licht Gottes. Es ist ein Licht, das der Mensch braucht, um zu sein. Ein Licht, das der Mensch in seinem Herzen anstrebt. Es ist ein Licht, in dem der Mensch aufrecht steht, wenn er sich hineinstellt. Es nimmt den Schmerz und die Wunden der Vergangenheit und erhebt den Menschen, als ob er sich aus dem Meer des Schmerzes und der Verblendung erhebt und nun im Licht des Schöpfers neu atmen kann. Im Hier und Jetzt durchdringt das Licht Gottes die tiefsten und dunkelsten Winkel unseres Lebens und wo es scheint, als würden die Dinge fast zugrunde gehen, da leuchtet das Licht und zeigt die Möglichkeit für einen Neuanfang, für ein neues Leben.
Der Inhalt des Auftrags ist also alt, so alt, dass er bis zu Gottes schöpferischem Akt am Uranfang zurückverfolgt werden kann. Gott erschafft und durch das Erschaffen lässt er zu, dass das göttliche Licht die Schöpfung berührt. Und so lesen wir im ersten Buch Mose (Kapitel 1), dass zuerst das Licht ermöglicht wird und dann alle geschaffenen Elemente gesehen werden können, sie können im Schöpferlicht erkannt werden. Die Schöpfung wiederum erhält durch das Stehen im Licht Gottes Form, Klarheit, Bedeutung, Ziel und die Chance auf einen Neuanfang.
Mit dem Beginn der Mission Jesu wird eine neue Schöpfung ermöglicht, damit die Menschen, die in der Finsternis, im Land und Schatten des Todes, saßen, ein großes Licht sehen und über ihnen Licht aufgehen kann. Es ist das Licht Christi, das Licht, das die Finsternis überwindet und somit ist es wahrhaftig ein heilbringendes Licht. Und wir lesen im Predigttext weiter: „Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen und zu sagen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“
Was bedeutet Buße tun? Ich denke, Buße tun, liebe Freunde, bedeutet, sich bewusst zu sein, dass wir Gott in unserem Leben brauchen. Man könnte fragen: Warum brauchen wir Gott? Ich würde sagen, wir brauchen Gott, damit wir nicht in die Finsternis fallen oder im Schatten des Lebens verharren. Wir brauchen das Licht Gottes, um zu sehen, was über die Befriedigung unserer unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht, was über unsere Selbstbezogenheit hinausgeht, um andere sehen zu können, um die Bedürfnisse anderer erahnen zu können. Wir brauchen das Licht Gottes, um besser zu verstehen, andere zu verstehen, um lieben und verzeihen zu können. Wir brauchen Gott, weil wir das Potenzial in uns haben, uns nach Gott, nach Gottes Licht, nach Freiheit, Frieden und dem Wohlergehen aller Menschen zu sehnen.
Nur Gott kann dies für uns tun, nur Gott kann uns helfen, unser Denken zu ändern. Nur Gottes Licht bringt uns zur Buße. Und Buße macht Heilung möglich.
Dieselben Worte Jesu wurden vor ihm von Johannes dem Täufer gesprochen. In Kapitel 3 (Vers 2) desselben Evangeliums lesen wir, wie Johannes predigt: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“
Ich möchte, liebe Freunde, die Predigt mit diesen abschließenden Gedanken beenden. Verkündigung, oder kirchlicher Dienst, haben immer mit Menschen zu tun, mit Menschen vor uns, nach uns und mit uns. Man kann einen Verkündigungsdienst nicht allein durchführen, und Jesus hat es auch nicht allein getan. Er begann seine Mission, als er erfuhr, dass Johannes der Täufer nicht mehr in der Lage war zu predigen, und er setzte die Arbeit des Johannes fort. Während seines gesamten Wirkens hatte Jesus immer Menschen an seiner Seite, und gleich zu Beginn seines Wirkens wählte er seine Jünger aus, die ihn begleiteten und seine Mission nach ihm fortsetzten. Wir lesen darüber direkt nach dem heutigen Predigttext. Heute hoffe ich auch, dass wir den uns anvertrauten Dienst mit und für uns alle und mit und für andere fortsetzen werden. Der Mensch, selbst wenn er glaubt und darauf vertraut, dass Gott bei ihm ist, braucht dennoch ein tröstendes Wort oder einen heilenden Beistand von einem anderen. Lasst uns nicht scheuen, einander und anderen dies anzubieten. Denn nicht nur der Dienst, sondern auch die Heilung ist eine gemeinschaftliche Erfahrung. Die Heilung des Einzelnen darf, kann und soll zur Heilung des Ganzen beitragen.
Jesus spricht: „Ich bin das Licht der Welt.“ (Joh. 8,12) Und an einer anderen Stelle lehrt er seine Jünger und spricht zu ihnen: „Ihr seid das Licht der Welt. … So lasst euer Licht
leuchten vor den Leuten“ (Matthäus 5,14.16). Amen.
Sylvie Avakian
12.01.2024