Das Wort, das uns gegeben ist

Das Wort, das uns gegeben ist

(Johannes 1,1-5. 9-14)

 

 

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch dasselbe entstanden; und ohne dasselbe ist auch nicht eines entstanden, was entstanden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen. Das wahre Licht, welches jeden Menschen erleuchtet, sollte in die Welt kommen. …

Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, doch die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, denen gab er das Anrecht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben; die nicht aus dem Blut, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind. Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. 

 

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Der Anfang des Johannesevangeliums ist eine tiefgründige Darstellung der Bedeutung und Relevanz des Wortes für unser Leben. Um diesen Text richtig zu verstehen, gilt es zu erkennen, wie dieses Wort auf eine innere und wesentliche Weise mit uns in Verbindung steht.

 

Das Wort „Wort“ [im griechischen Logos] ist ein sehr wichtiges Wort in der Bibel und war auch für die frühere griechische Philosophie von großer Bedeutung. Das Wort „Wort“ oder „Logos“ hatte in der Bibel und wie auch in der philosophischen Tradition viele Bedeutungen. Von den vielen Bedeutungen des Wortes Logos sind Grund, Sinn und Ziel, und ich möchte heute mit Ihnen über diese drei Bedeutungen des Wortes nachdenken. Logos bedeutet also Grund und kann aber auch Sinn oder Ziel bedeuten.

 

Logos als Grund bedeutet Ursache einer Sache und von diesem Wort kommt der deutsche Gebrauch von logisch, nämlich vernünftig, das heißt rational oder möglich nach dem Verstand. Und wenn wir bereits hier versuchen zu sehen, wie diese Bedeutung als Grund oder Ursache in den Kontext des Johannesevangeliums passt, und wir wissen, dass hier tatsächlich Gott, der Sohn, Jesus Christus, mit dem Logos gemeint ist, so können wir sagen, dass Gott oder Jesus Christus der Grund und die Ursache des Lebens und von allem ist. Und dies kann auch auf andere Bedeutungen des Wortes angewendet werden, sodass Gott, der Sohn, im Johannesevangelium als die wahre Bedeutung und das endgültige Ziel von allem betrachtet wird.

 

Nehmen wir an, jemand sagt zu uns: „Das ist der Logos von etwas“. So könnte man Logos als Bezeichnung für den Grund dieses Dings verstehen, nämlich warum sie überhaupt existiert. Man könnte die Aussage auch so verstehen, dass dies die Bedeutung der Sache oder das endgültige Ziel und der Zweck ist, warum diese Sache überhaupt existiert. Aber was ist mit Grund, Sinn und Ziel in Bezug auf das Wort wirklich gemeint? Ein Beispiel kann uns helfen, uns diesen verschiedenen Bedeutungen des Wortes Logos zu nähern. Etwa wenn man sagt: Der „Logos“ dieser besonderen Mahlzeit ist das Zusammenkommen von Menschen. Dann kann ich diese Aussage so verstehen, dass das Zusammenkommen von Menschen der Grund für das Essen und das Teilen der Mahlzeit ist, aber auch so, dass das Zusammenkommen die Bedeutung, den Zweck und das Endziel ist. Also nicht bloß das Essen, sondern vielmehr die Gemeinschaft der Menschen als Ziel gesehen ist.

 

Und so können wir den ersten Vers des heutigen Predigttextes: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“ bereits hier so verstehen, dass Gott der Grund, der Sinn und das Ziel ist. Aber wovon? Wahrscheinlich von allem, von allem, was existiert. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass Gott hinter der gesamten Schöpfung steht, als ihr Grund oder ihr Fundament. Gott ist der Sinn der gesamten Schöpfung, also auch der Sinn unseres Lebens, und Gott ist das endgültige Ziel, auf das die gesamte Schöpfung und damit auch unser Leben zusteuert. Daran gedenken wir bei jeder Beerdigung, nämlich dass das Leben der Verstorbenen in Gott seine Vollendung finden wird.

 

Bevor wir zum zweiten Vers übergehen, sollten wir uns eines Details bewusst werden. Das Wort, oder der Logos, wird als Gott und „bei Gott“ bezeichnet. In diesem sehr wichtigen Detail können wir die Unterscheidung erkennen, die zwischen Gott, der in gewisser Weise jenseits der menschlichen Vorstellungskraft bleibt, einerseits, und Gott, der in die Welt kommt, eine menschliche Gestalt annimmt und alle Facetten des menschlichen Lebens selbst durchlebt, andererseits. „Der Mensch gewordene Gott“ ist derselbe Grund, derselbe Sinn und dasselbe Ziel, das der Welt gegeben ist, damit die Welt nicht ihres Sinnes beraubt und von Gott getrennt wird. Die folgenden Verse erklären dies. So lesen wir: „Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch dasselbe entstanden; und ohne dasselbe ist auch nicht eines entstanden, was entstanden ist.“ Dies besagt erneut, dass Gott der Grund, das Fundament aller Schöpfung ist. Dies erinnert uns an die Schöpfungsgeschichte, in der der schöpferische Akt Gottes nur dadurch beschrieben wird, dass Gott Worte spricht. Und so lesen wir im 1.Buch Mose, dass Gott spricht: „Es werde Licht! Und es wurde Licht.“ (1.Mose 1,3). Das Wort selbst hat also schöpferische Kraft.

 

Vers 4 führt einen neuen Aspekt ein: „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.“ Ich würde dies so verstehen, dass es das Wort beschreibt, das der Welt gegeben wird, das Wort, das in dieser Welt als menschliches Leben geboren wird, ähnlich dem Leben eines jeden von uns. In ihm war also Licht, und doch hat die Dunkelheit dieses Licht nicht verstanden, nicht begriffen, nicht wahrgenommen oder erlangt.

 

An dieser Stelle möchte ich auf mein Beispiel des Mahles zurückkommen, das einen Grund, einen Sinn und ein Ziel hat. Dennoch kann dieses Mahl, wie jede andere Lebenssituation auch, seine Bedeutung verlieren, und sein Grund und Ziel können verblendet oder verborgen bleiben, wenn die äußere Erscheinung die ganze Aufmerksamkeit erhält. Das heißt, wenn wir uns damit zufrieden geben, alles perfekt zu machen, ein perfektes Esszimmer für den Abend, einen schönen Tisch, der sehr gut gedeckt ist, vielleicht möchten wir selbst auch gut aussehen, und das ist in der Tat auch etwas Gutes, mit einem sehr gut gedeckten Tisch und einem köstlichen Essen. All diese Beschreibungen von Bedenken sind in Ordnung, aber ein Problem könnte entstehen, wenn man den Grund, den Sinn und das Ziel des Mahls außer Acht lässt, nämlich das Zusammenkommen von Menschen, und sich nur auf seine äußere Erscheinung konzentriert. In diesem Sinne heißt es in Vers 5: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht begriffen.“ Das bedeutet, dass der Sinn, der Grund und das Ziel des Lebens für die Mehrheit der Menschen größtenteils verborgen blieben und bleiben, da sie sich mit anderen Belangen beschäftigen.

 

Und das ist die Tragödie des christlichen Daseins in der Welt: „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, doch die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ Und das ist die Geschichte des Kreuzes. Das Wort, das Fleisch wurde, wurde geboren und lebte in dieser Welt. Und doch wurde es von den Menschen nicht angenommen. Der Grund, der Sinn und das Ziel dieses „Wortes“ [oder Mensch gewordenen Gottes] wurden verleugnet. Dieses Wort, liebe Gemeinde, dessen Geburt wir heute feiern, ist uns gegeben und kommt jeden Tag in unsere Herzen. Ein Stück dieses Wortes steckt irgendwie in uns, denn auch wir geben Grund, sind sinnstiftend und tragen zum Ziel bei.

 

Lasst uns, liebe Gemeinde, das Wort annehmen, es uns aneignen. Das Wort Gottes ist nichts, das uns fern oder von uns getrennt ist, sondern es ist in uns und mit uns. Das ist die Botschaft von Weihnachten. Das ist die gute Botschaft des Evangeliums: „Allen aber, die ihn aufnahmen, denen gab er das Anrecht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben.“ Amen.

 

 

Sylvie Avakian

25.12.2024