„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung“

(Lukas 1,39-56)

 

(Abschiedspredigt – Horb – Dettingen)

 

 

Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und reiste rasch in das Bergland, in eine Stadt in Juda, und sie kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. Und es geschah, als Elisabeth den Gruß der Maria hörte, da hüpfte das Kind in ihrem Leib; und Elisabeth wurde mit Heiligem Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! Und woher wird mir das zuteil, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, sowie der Klang deines Grußes in mein Ohr drang, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Und glückselig ist, die geglaubt hat; denn es wird erfüllt werden, was ihr vom Herrn gesagt worden ist! 

 

Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.

 

Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.

 

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Liebe Gemeinde, liebe Freunde, vor der Predigt möchte ich mit Ihnen im Rückblick einige Momente meiner vergangenen Zeit hier in Dettingen teilen. Dabei handelt es sich um meine persönlichen Eindrücke: Ich werde in meiner Ansprache keine Namen nennen. Wir kamen im August 2019 nach Dettingen. Zu dieser Zeit besaß ich kein Auto und musste einige Anschaffungen tätigen, darunter auch ein Auto. Ein Mitglied des Kirchengemeinderats war so freundlich, mich zu fahren und investierte Zeit und Energie, um mir einen reibungslosen Start hier in Dettingen zu ermöglichen. Der Anfang war für mich nicht einfach, da ich neben den pfarramtlichen Aufgaben auch die Prüfungen der sogenannten zweiten evangelisch-theologischen Dienstprüfung vorbereite, die ich wiederholen musste, weil ich diese im Winter 2019 beim ersten Mal nicht bestanden hatte. Die Schwierigkeit lag hier nicht in der Planung der Prüfungen oder der Vorbereitung darauf. All dies ließ sich einrichten, aber es war eine schwierige Zeit für mich wegen der ganzen Prüfungssituation. Auch hier bekam ich Unterstützung von der Gemeinde, eine Art Gefühl, dass ich in dieser Zeit der Not nicht allein gelassen werde. Und dann kam die Ordination im September 2021. Die Ordination sollte im Schlossgarten hier in Dettingen unter einem Zelt stattfinden. Am vorletzten Tag teilten mir die Zeltbauer mit, dass sie das Zelt nicht aufbauen können. Doch dann wurde mit der spontanen Hilfe einiger Nachbarn und Mitgliedern des Kirchengemeinderats ein wunderschönes Zelt errichtet und der Ordinationsgottesdienst konnte stattfinden. Meine Freude über diese Unterstützung war nicht geringer als meine Freude über das Ereignis selbst. Darüber hinaus haben mir einige Nachbarn ein sehr schönes Album mit allen selbstgemachten Bildern der Ordination und ihrer Gäste zusammengestellt, ein Album, das mich überallhin begleiten wird.

 

An dieser Stelle möchte ich auch einige Gruppen von Menschen besonderes danken. Dem Kirchengemeinderat möchte ich herzlich danken. Gemeinsam konnten wir planen, diskutieren, aber vor allem konnten wir einander verstehen und unterstützen. Dafür bin ich sehr dankbar. Auch der Sekretärin des Pfarramtes ein herzliches Dankeschön, sie hat rechtzeitig alles gut gemacht und vorbereitet. Ebenso geht mein Dank an all unsere Mesner für die schöne Mitarbeit. Ich bin auch dankbar für diejenigen, die jeden Sonntag die Gottesdienste besuchten und meine manchmal langen theologischen Predigten geduldig anhörten. Sie waren immer eine große Unterstützung für mich. Ich möchte heute auch dem Musikverein Dettingen herzlich danken. Für mich war der Musikverein eine Brücke, die die Kirche in das Innenleben von Dettingen bringt. Die Kirche, liebe Gemeinde, sollte keine separate Sache oder ein vom Leben der Menschen getrennter Sonderbereich sein. Die Kirche sind vielmehr die Menschen selbst. Und der Musikverein-Dettingen hat alles so gut gemacht, dass wir viele gute Gottesdienste mit schöner Musik genießen konnten, darunter Konfirmationsgottesdienste und meine eigene Ordination. Ich bin auch dankbar, dass wir auf ökumenischer Basis gemeinsam planen und arbeiten konnten. Die Tatsache, dass wir hier eine evangelische Diasporagemeinde sind, hatte keinen Einfluss darauf, wie ich die Menschen sehe, denn für mich ist jeder Mensch ein Mensch, und die konfessionellen Unterschiede waren und sind in meinen Beziehungen zu den Menschen nicht relevant. Und so habe ich mich auch gefreut, von der katholischen Gemeinde genauso gesehen zu werden. Ich bin auch sehr dankbar für meine Pfarrer-Kolleginnen und Kollegen und die gute Zusammenarbeit, für die Freunde aus dem Synagogenverein und für die Menschen in Dettingen und den Nachbarorten, dass ich und wir als Familie hier sein durften. Und schließlich wäre all das nicht möglich ohne die grenzenlose Unterstützung von meinem Mann Nabil und unseren beiden Töchtern Christine und Grace.

 

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Als ich Kind war, war es in unserer Familie üblich, in den Sommerferien zwei Wochen lang in den Urlaub zu fahren: eine Woche in ein kleines Dorf in Syrien namens Wadi Al Ayoun und eine Woche in die Stadt Latakia am Meer. Von diesen Urlaubstagen sind mir vor allem zwei Dinge in Erinnerung geblieben: zum einen die Natur, zum anderen die gastfreundlichen Menschen und die Begegnungen mit ihnen.

 

Das Dorf Wadi Al Ayoun, was übersetzt „Tal der Quellen“ bedeutet, ist ein Dorf im Nordwesten Syriens, das mit anderen ca. 20 weiteren Dörfern zusammengehört. Das Dorf hatte Anfang der 1980er Jahre wahrscheinlich etwa 1.000 Einwohner. Die Bewohner waren überwiegend Alawiten. Diese informativen Details waren für mich als Kind jedoch völlig unbedeutend. Nur die Natur und die Menschen haben noch ihren Platz in meiner Erinnerung. Wadi Al Ayoun hatte zahlreiche Quellen, Wasserfälle und Grünalgen, die die Felsen und den Boden der Gegend stark bedeckten. Die Wasserfälle waren so besonders, dass man sie berühren und darin spielen und auf ihren Felsen klettern konnte. Bis heute habe ich ein Bild von mir, wie ich auf den Felsen in einem Wasserfall sitze. Ich erinnere mich nicht an viele Menschen aus dem Dorf, aber hauptsächlich an zwei von ihnen. Sie waren die Besitzer des kleinen Hotels, das wir jedes Jahr besuchten, und sie warteten sozusagen auf uns. Ich erinnere mich an ihre einfache traditionelle Kleidung, die sich von unserer Kleidung unterschied. Ich erinnere mich auch an ihre einfache, unkomplizierte, unbeschwerte Art, mit uns umzugehen, an ihre Gastfreundschaft, als ob, obwohl sie Geld von ihren Gästen erhielten, sie sich wirklich um die Gäste kümmerten. Viele Jahre vergingen und ich wünschte mir, ich könnte das Paar eines Tages wieder besuchen.

 

„Alles wirkliche Leben ist Begegnung,“ schrieb der österreichisch-jüdische Philosoph Martin Buber. Er schrieb weiter: „Wenn wir aufhören, uns zu begegnen, ist es, als hörten wir auf zu atmen.“

 

Was zählt, ist also die Begegnung, liebe Gemeinde und liebe Freunde. Und bei einer Begegnung geht es ums Reden und Zuhören. Aber eine Begegnung ist mehr als nur Reden und Zuhören. Manchmal ist eine Begegnung nur ein flüchtiger Blick, manchmal ist es ein Lächeln oder ein Winken mit der Hand. Aber in all ihren möglichen Formen erfordert eine Begegnung zwei Dinge. Eine Begegnung erfordert Demut, aber auch Mut. Das Wort „Demut“ oder „Bescheidenheit“ mag im Deutschen eine negative Konnotation haben, aber das entspricht nicht der wahren Bedeutung des Wortes. Ohne Demut ist eine Begegnung unmöglich. Ohne Demut würden die Menschen hochmütig und doch allein in ihrem engen Kreis bleiben, denn Demut ist der erste Auslöser für eine Begegnung. Um dem anderen zu begegnen, muss der Mensch seinen Blick heben und den anderen ansehen und ihn damit auch anerkennen. Das bedeutet, dass der Mensch zugibt, dass der andere ihm wichtig ist.

 

Und es sind nicht nur Menschen, denen wir begegnen, sondern auch Gott. Und auch hier erkennen wir, dass wir Demut brauchen. Denn Glaube ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass es einen Gott gibt und dass wir nicht alles selbst gemacht haben. Wir haben die Bäume, die Tiere, die Berge oder den Wasserfall nicht gemacht. Deshalb können wir zu Gott kommen, nicht nur in Tagen und Zeiten der Not und des Leides, sondern jeden Tag und zu jeder Zeit. Denn unsere Herzen gehören Gott und ohne Gott wird uns etwas im Herzen fehlen. In diesem Sinne schrieb Augustinus am Ende des 4. Jahrhunderts: „Du hast uns [Gott] zu dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“ (Augustinus, Bekenntnisse, II/4).

 

Und liebe Freunde, um diese Demut zu haben, um Glauben zu haben, aber auch um das, was wir haben, mit anderen teilen zu können, brauchen wir Mut. Denn dies sind keine üblichen Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft. Sich also dafür zu entscheiden, Glauben zu haben, sich anderen zu öffnen, erfordert viel Mut. Und Teilen bedeutet hier in der Tat, das Leben zu teilen, unsere eigenen Freuden, aber auch unseren eigenen Schmerz. Und manchmal fällt es uns schwerer, unseren Schmerz zu teilen als unsere Freuden. Weil wir oft nicht schwach erscheinen wollen. Aber Schwäche ist Teil des menschlichen Lebens. Niemand ist in dieser Welt vor Schmerz, Leid oder eigenen Fehlern gefeit, und durch Begegnungen können solche Hindernisse überwunden werden.

 

Und das ist die Geschichte, um die es in unserem Predigttext geht. Zwei Frauen, Maria und Elisabeth, beide in einer schwierigen Situation, weil sie die Erwartungen der Gesellschaft noch nicht erfüllen – die eine ist zu jung und unerwartet schwanger, die andere zu alt, kinderlos und doch schwanger – treffen aufeinander und trösten sich gegenseitig.

 

Und dann lesen wir Marias Lobgesang, den wir in der Schriftlesung gehört haben. Und heute möchte ich sagen, dass diese Prophezeiung Marias, dass Gott die Niedrigen erhebt und die Hochmütigen erniedrigt, bereits durch ihre Begegnung mit Elisabeth verwirklicht wurde. Liebe Freunde, Wunden und Schmerzen können durch Begegnungen geheilt werden. Alles andere mag irgendwann in Vergessenheit geraten, aber die heilende Kraft der Begegnung bleibt bestehen. Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

 

22.12.2024