Die Vergeltung Gottes und unser Heil
(Jesaja 35,3-10)
Stärkt die schlaff gewordenen Hände und macht fest die strauchelnden Knie; sagt zu denen, die ein verzagtes Herz haben: Seid tapfer und fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes; er selbst kommt und wird euch retten! Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden; dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch und die Zunge des Stummen lobsingen; denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme in der Einöde. Der glutheiße Boden wird zum Teich und das dürre Land zu Wasserquellen. Wo zuvor die Schakale wohnten und lagerten, wird ein Gehege für Rohr und Schilf sein. Und eine Straße wird dort sein und ein Weg; man wird ihn den heiligen Weg nennen; kein Unreiner wird auf ihm gehen, sondern er ist für sie; die auf dem Weg wandeln, selbst Einfältige, werden nicht irregehen.
Dort wird es keinen Löwen geben, und kein Raubtier wird zu ihm herankommen oder dort angetroffen werden, sondern die Losgekauften werden darauf gehen. Und die Erlösten des HERRN
werden zurückkehren und nach Zion kommen mit Jauchzen. Ewige Freude wird über ihrem Haupt sein; Wonne und Freude werden sie erlangen, aber Kummer und Seufzen werden
entfliehen!
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Eine Frage, die mich schon lange beschäftigt, ist: Wie können wir über das Kommen Gottes in diese Welt predigen, über Gerechtigkeit und Hoffnung, oder auf diese hoffen und daran glauben, wenn es so viel Schmerz, so viel Leid und Tod in der Welt gibt? Ist es gerecht, wenn es in der Welt immer Opfer gibt und andere weiterhin Angreifer und Täter sind?
Der Predigttext für uns heute ist ein Heilsversprechen, ein Wort der Hoffnung, Hoffnung inmitten von Grausamkeit und Gräueltaten. Eine solche Welt voller Grausamkeit und Gräueltaten entspricht der heutigen Realität in der Welt, aber auch dem historischen Hintergrund dieses Buches. Das Buch des Propheten Jesaja ist eine der wichtigsten prophetischen Schriften des Alten Testaments und die längste. Und es wird oft in drei Teile unterteilt: vor dem babylonischen Exil, während des Exils und nach dem Exil. Auch wenn der heutige Text im ersten Teil steht, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine spätere Einfügung in diesen ersten Teil des Buches, der hauptsächlich ein Urteil über die Untreue Israels gegenüber dem Bund mit Gott ist, das mit dem Exil des Volkes enden und viel Schmerz und Leid verursachen wird. Der Text wird dann als Wort der Hoffnung inmitten der Angst vor zukünftigen Katastrophen, inmitten von Verlust und Unsicherheit eingefügt.
So lesen wir im Predigttext die ermutigende Worte: „Stärkt die schlaff gewordenen Hände und macht fest die strauchelnden Knie; sagt zu denen, die ein verzagtes Herz haben: Seid tapfer und fürchtet euch nicht!“ Aber dann lesen wir weiter und stellen wir fest, dass dieser Text auch kein so sanftes Wort der Hoffnung und des Trostes ist. So lesen wir: „Seht, da ist euer Gott! Die Rache kommt, die Vergeltung Gottes; er selbst kommt und wird euch retten!“
Hier lässt uns die Worte Rache und Vergeltung unruhig werden. Wie sollen wir eines Tages vor Gott stehen? Denn selbst wenn wir es schaffen, uns während unseres Lebens davor zu entziehen, vor Gott zu stehen, werden wir es am Ende müssen, wie uns auch die heutige Schriftlesung (Lukas 21,25-32) sagt. Hier müssen wir jedoch die Bedeutung des Begriffs „Vergeltung“ im Alten Testament genauer betrachten. Im Alten Testament umfasst Vergeltung die Aspekte Rache und Bestrafung, aber auch Belohnung und Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Spuren dieser Bedeutung des Wortes Vergeltung finden sich auch im deutschen Sprachgebrauch, zum Beispiel im Dankesausdruck „Vergelt's Gott!“, im Sinne des Wunsches, dass Gott die andere Person für etwas Gutes belohnen möge, das er getan oder beigetragen hat. Gottes Vergeltung zielt daher auf die notwendige Korrektur und das Zurechtrücken menschlicher Unausgewogenheiten ab. Dies könnte – nach unserem Verständnis und unserer Auffassung des Wortes – Bestrafung umfassen, wo Bestrafung notwendig ist, sowie Belohnung, wo Belohnung angemessen ist. Dies, liebe Gemeinde, ist ein sehr wichtiger Gedanke. Wenn wir zu Gott kommen oder wenn wir Gott erlauben, zu uns zu kommen, richtet Gott uns wieder auf. Gott ermöglicht es uns, unsere Fehler zu sehen und unsere Verfehlungen zu erkennen und ermutigt uns zugleich, Gutes zu tun.
In diesem Sinne können wir auch die Worte der Schriftlesung verstehen: Wenn der Retter kommt, „dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Gott hat hier gewissermaßen die Wirkung eines Spiegels. Im Spiegel sehen wir, dass wir nicht aufrecht stehen, und richten uns entsprechend aus. In Gott können wir das sehen, was wir üblicherweise übersehen. Und ich kann mir vorstellen, dass allein das Erkennen der Fehler schon eine Strafe ist. Wenn wir uns Gott zuwenden, sehen wir unsere Fehler. Diese Möglichkeit zur Korrektur wäre nicht möglich, wenn wir uns nicht an Gott wenden würden. Ohne Gott leben und handeln wir also weiterhin so, wie wir es oft unreflektiert tun. Darüber haben wir vor zwei Wochen mit den Konfirmanden gesprochen. Im Gebet und durch das Gebet kommen wir zu Gott, wir denken über unser Leben, unsere Handlungen und Worte nach, wir denken über andere nach und bitten Gott um Hilfe, wir bitten Gott, uns und andere zu zurechtzurücken, die Ungerechtigkeit in der Welt zu beseitigen, damit wir und andere dem Ebenbild, nach dem Gott uns geschaffen hat, immer näherkommen. Das bedeutet auch, dass alle, die in der Welt unter Ungerechtigkeit leiden, von Gott gesehen und aufgerichtet werden, damit ihnen Gerechtigkeit widerfährt.
In diesem Sinne können wir den folgenden Sätze des Predigttextes verstehen: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden; dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch …“
Und zum Schluss des Textes heißt es: „Und die Erlösten … werden zurückkehren ... Wonne und Freude werden sie erlangen, aber Kummer und Seufzen werden entfliehen!“ Aber dann werden wir wieder skeptisch. Ist diese Beschreibung nicht weit von unserer weltlichen Realität entfernt? Wann wird dies Realität werden? Steht dies nicht im Widerspruch zur brutalen Realität im heutigen Jerusalem, in Israel, Palästina und der gesamten Region, wo jeden Tag Menschen sterben? Und dann denke ich, dass wir unbedingt das Neue Testament brauchen. Die Verheißungen des Alten Testaments würden nicht ausreichen, um uns zu helfen, Gott in allem und in jeder Situation vertrauen zu können. Wir wenden uns deshalb dem Neuen Testament zu und lesen von einem Kind, das schutzlos in einer Krippe in einem Stall geboren wird, weil die Eltern des Kindes in der Nacht keinen Platz zum Übernachten finden. Wir lesen von einem Retter, der als Verbrecher verurteilt wird und am Kreuz stirbt. Wissen Sie, liebe Gemeinde, was das bedeutet? Das bedeutet, dass Gott in unseren Schwächen gegenwärtig ist. Gott ist da und stirbt mit jedem sterbenden Kind, leidet mit jeder leidenden Mutter und geht mit jedem verlorenen Leben eines jungen Menschen verloren. Wir werden dann von der Erkenntnis getragen, dass dieser Gott uns nicht in die verheißene Zukunft verweist, sondern uns im Hier und Jetzt tröstet. Dass Gott jeden Tag mit uns geht, Schritt für Schritt, und in Christus Jesus erkennen wir, dass er selbst der Weg unseres Lebens wird, der Weg, den wir gehen sollen.
„Und eine Straße wird dort sein und ein Weg; man wird ihn den heiligen Weg nennen“, heißt es im Predigttext. Dieser heilige Weg, liebe Gemeinde, ist nirgendwo außerhalb von uns zu finden. Es ist ein Weg im Herzen, und Heiligkeit nimmt keine bestimmte Sache, in der sie wohnt, oder einen Weg, der gegangen werden muss, um Ruhm und Macht in der Welt zu erlangen. Im Gegensatz dazu ist der Weg des Heils ein Weg im Herzen, ein Weg des Friedens und des Lebens, ein Weg, den wir gehen wollen. Es ist ein Weg ohne Schutz, ähnlich wie Jesus Christus, der ohne Schutz geboren wurde, lebte und am Kreuz starb. Und so ist Christus ein Erlöser, der im Herzen gesucht werden muss, ein Erlöser, den man bitten soll, zu kommen und zu retten. Christus ist ein Weg, auf dem wir immer mit der Spannung zwischen Angst und Vertrauen, Trauer und Trost, Zweifel und Mut wandeln, zwischen Anfang und Ende. Mit der Sehnsucht nach Erlösung, die unseren Alltag durchbrechen kann.
„Und als dann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28) Amen.
Sylvie Avakian
08.12.2024