Liebe ohne Erwartung
(Micha 6,1-8)
Hört doch, was der HERR spricht: Mache dich auf, führe den Rechtsstreit angesichts der Berge, und lass die Hügel deine Stimme hören! Hört doch, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN und [achtet darauf,] ihr unwandelbaren Grundfesten der Erde! Denn der HERR hat einen Rechtsstreit mit seinem Volk, und mit Israel will er sich auseinandersetzen.
Mein Volk, was habe ich dir angetan, und womit habe ich dich beleidigt? Lege Zeugnis ab gegen mich! Habe ich dich doch aus dem Land Ägypten heraufgeführt und dich aus dem Haus der Knechtschaft erlöst und Mose, Aaron und Mirjam vor dir her gesandt! …
Womit soll ich vor den HERRN treten, mich beugen vor dem erhabenen Gott? Soll ich mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern vor ihn treten? Hat der HERR Wohlgefallen an Tausenden von Widdern oder an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen geben für meine Übertretung, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele?
Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: Was anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?
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Im heutigen Predigttext lesen wir von einem Rechtsstreit oder einer Klage, die Gott gegen sein Volk Israel vorbringt. Entstanden ist der Text wahrscheinlich in der Zeit nach dem Exil der Israeliten in Babylon, in der Perserzeit. Die im Text enthaltene Anklage hat eine kosmische Dimension, sodass auch Berge, Hügel und die Grundfesten der Erde erwähnt werden. Dies ruft beim Leser den Kontext des Alten Bundes in Erinnerung, der zwischen Gott und seinem Volk Israel geschlossen wurde, der auf dem Gesetz begründet war. Nachdem die Anklage Gottes bekannt gemacht wurde, folgt eine Art Klagelied, in dem Gott sein Volk anspricht. Um die Angeredeten zu Buße und Umkehr zu bewegen, ruft Gott dem Volk in Erinnerung, wie er Israel in der Vergangenheit aus Knechtschaft und Gefahr gerettet hat.
Als Antwort auf Gottes Klage erklärt ein Sprecher im Namen des Volkes, dass es unmöglich sei, JHWH zufriedenzustellen, nicht einmal mit den erlesensten Ritualen und den größten Opfergaben. Durch diesen Sprecher, der einen frustrierten Israeliten darstellt, ruft der Text wichtige Fragen auf: „Womit soll ich vor den HERRN treten…? Soll ich mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern vor ihn treten?“
Die Antwort ist definitiv negativ. Jahwe verlangt eine innere Verwandlung und eine entsprechende Geisteshaltung. Demnach erscheint die klare dreiteilige Antwort des Predigttexts ganz am Ende: „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was [JHWH] (der HERR) von dir fordert: Was anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?“
Mit dem Vokativ „Mensch“ (Adam) in Vers 8 wird der ‚Mensch‘ als Erdling bezeichnet, der als Geschöpf vor Gott [JHWH] steht. Als Erdling, als menschliches Geschöpf ist er von dem Druck befreit, übermenschliche Leistungen erbringen zu müssen. Gerechtigkeit und Liebe soll er üben und in Demut den Weg mit Gott gehen. Dies zusammen, liebe Gemeinde, ist die menschliche Antwort auf die Liebe Gottes. Gerechtigkeit üben, oder Recht für die Armen und Schwachen in der Gesellschaft zu schaffen, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Liebe zu üben und demütig zu wandeln, das sind Merkmale, die nicht mit Gesetzen gemessen werden können. Immer wenn wir die Liebe Gottes empfangen, erkennen wir, dass diese Liebe für alle Menschen gilt. Liebe kennt keine Parteilichkeit. Der Predigttext kommt damit der Botschaft des neuen Bundes durch Jesus Christus, nämlich der bedingungslosen Liebe Gottes, sehr nahe. Denn nur eine solche Liebe ermöglicht eine Verwandlung im Geiste. Wir wissen also, dass es bereits im Alten Testament ein Gebot gibt, das auf bedingungsloser Liebe beruht und sich in der Ausübung von Liebe, Gerechtigkeit und Demut zeigt.
Das ist der Kern der Botschaft des Evangeliums, liebe Gemeinde: Gott liebt die Menschen bedingungslos. Wir müssen keine Brandopfer bringen, keine Voraussetzungen erfüllen, um von Gott angenommen zu werden. Wir werden durch Jesus Christus angenommen und geliebt. Für uns, liebe Gemeinde, steht Jesus Christus für die bedingungslose Liebe und Gnade Gottes. Wir können dies verstehen, wenn wir an das Leben Jesu denken. Jesus hat nie eine Gegenleistung für seine Liebe und seine Wohltaten verlangt. Stattdessen lesen wir, dass er sagt: „Geh und sündige nicht wieder“ oder „Geh, dein Glaube hat dich gerettet“. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass wir diese Aufforderung, nicht wieder zu sündigen, oder im Glauben zu leben, nicht als Bedingung für Gottes Liebe, sondern als eine Erklärung der Fürsorge für den anderen verstehen. Jesus Christus hat uns keine Liste von Gesetzen gegeben, die wir erfüllen müssen, sondern nur ein Gebot in zwei Teilen, das wir das Doppelgebot der Liebe nennen. Und selbst dieses Gebot müssen wir als eine Aussage der Fürsorge für diejenigen verstehen, die es empfangen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben … Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,37.39).
Das bedeutet, dass uns geholfen wird, wenn wir Gott und unseren Nächsten lieben. Aber macht das wirklich Sinn? Und wenn ja, inwiefern? Was wird sich in uns ändern, wenn wir Gott und unseren Nächsten lieben? Liebe Gemeinde, die einfache Erfahrung, einen anderen zu lieben, und damit meine ich sowohl die Liebe zu Gott als auch zu einem anderen Menschen, die einfache Erfahrung der Liebe rettet uns vor Egoismus. Sie bewahrt uns davor, in ein selbstbezogenes Leben zu verfallen, Opfer von Neid, Hass, Hochmut, Bitterkeit und Wut zu werden. Und natürlich können wir fragen: Wie kann das geschehen? Hier können viele Beispiele genannt werden. Wenn wir jemanden lieben, wollen wir, dass diese Person das Beste erhält, gesund bleibt, ihre Träume verwirklicht, und dann erkennen wir, dass unsere Wünsche für die, die wir lieben, uns wirklich retten können, nämlich auch von unseren Krankheiten heilen, im übertragenen Sinne von unserem Hochmut, Hass und Neid. Der liebende Mensch ist freundlich, ist demütig, ist nicht mehr wütend. Irgendwie formt uns die Liebe Tag für Tag aufs Neue. Jeden Tag werden wir freundlicher, demütiger. Manchmal durch Schmerz, manchmal durch Aufopferung für die geliebten Menschen. Wissen Sie warum? Weil wir, um zu lieben, unsere Aufmerksamkeit auf die geliebten Menschen richten. Und das ist die Magie der Liebe, ihre heilende Kraft. Sie verändert den Menschen von innen heraus, sie macht ihn sanft, sensibel für die Bedürfnisse anderer, bereit zu geben und zu opfern. In diesem Sinne könnten wir sagen, dass wir noch in den Zeiten des Alten Bundes leben, wenn wir die Liebe noch nicht erfahren haben, wenn wir uns lediglich dafür entscheiden, nach den Gesetzen zu leben und glauben, dass die Liebe eine Schwäche ist.
Warum reicht denn das Gesetz für ein sinnvolles Leben nicht aus? Das Problem mit dem Gesetz ist, dass es manipuliert werden kann, dass es missbraucht werden kann, dass es so streng sein kann, dass es eine Person in Not nicht sieht, sondern nur den Mächtigen dient, die die Gesetze schaffen. Aber wenn der Mensch Liebe erfährt, erkennt er, dass wahre Liebe bedingungslos ist. In diesem Sinne, liebe Gemeinde, reicht die Liebe zu Familienmitgliedern oder Verwandten auch nicht aus, denn schließlich ist es eine bedingte Liebe. Wir lieben sie, weil sie zu uns gehören. In gewisser Weise tun sie also auch etwas für uns. Diese Liebe ist gut, aber nicht ausreichend, um uns zu retten. Sie kann uns nicht von den Grenzen befreien, die uns umgeben.
Gesetze können nach den eigenen Bedürfnissen gemacht werden, aber Liebe und Gnade sind für alle; sie sind universell. Nach den Gesetzen kann man allein leben und mit dem, was man im Leben erreicht, zufrieden sein. Aber durch die Liebe erkennt man, dass man die anderen braucht und dass die anderen ihn/sie brauchen. Die beiden Gebote, Gottesliebe und Nächstenliebe, sind ein und dasselbe, denn um zu erkennen, dass es einen Gott gibt, muss man aus sich selbst herausgehen, und dasselbe gilt für die Liebe zu anderen. Wer Gott liebt, liebt seinen Nächsten, und wer seinen Nächsten liebt, liebt Gott, selbst wenn er dies unbewusst tut.
Ist dann eine bedingungslose Liebe realistisch? In unseren Lebenssituationen erleben wir oft Liebe, die mit Erwartungen verbunden ist. Liebe Gemeinde, vielleicht genügt es heute zu erkennen, dass wir wenigstens von Gott bedingungslos und ohne Erwartungen geliebt sind. Wir werden geliebt als die Menschen, die wir sind. Jeder von uns, so wie er/ sie ist, mit seinen/ ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten, wird angenommen. Heute genügt es uns, dies zu erkennen, und dies anzunehmen, nämlich die Liebe Gottes, denn die Liebe hat die Kraft, Leben zu verändern.
Wer liebt, liebt ohne Erwartung, und wer ohne Erwartung lieben kann, liebt wahrhaftig.
Der reiche junge Mann, von dem wir in der Schriftlesung gehört haben, hat die Worte Jesu höchstwahrscheinlich nicht verstanden. Er konnte nicht verstehen, was Jesus meint. Jesus verlangt nicht, dass wir alles wortwörtlich zurücklassen, um ihm nachzufolgen. Ihm nachzufolgen, bedeutet aber, dass allein die Liebe das Herz des Menschen regiert und nichts anderes.
„Da blickte ihn Jesus an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir! Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, nimm das Kreuz auf dich und folge mir nach!“
Das Gebot Jesu ist auch heute noch aktuell. Können wir es befolgen? Amen.
Sylvie Avakian
27.10.2024