Neuschöpfung und Versöhnung

Neuschöpfung und Versöhnung

(Epheser 2, 17-22)

 

 

Und er kam und verkündigte Frieden euch, den Fernen, und den Nahen; denn durch ihn haben wir beide den Zutritt zu dem Vater in einem Geist. So seid ihr nun nicht mehr Fremdlinge ohne Bürgerrecht und Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, auferbaut auf der Grundlage der Apostel und Propheten, während Jesus Christus selbst der Eckstein ist, in dem der ganze Bau, zusammengefügt, wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn, in dem auch ihr miterbaut werdet zu einer Wohnung Gottes im Geist. 

 

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Liebe Gemeinde, der Predigttext beginnt zwar etwas später, aber ich möchte die wenigen Verse davor lesen, denn darin liegt der Schlüssel für eine Denkweise, die uns heute helfen kann. Dieser Teil hat die Überschrift: „Juden und Heiden mit Gott versöhnt“: „Darum gedenkt daran, dass ihr, die ihr einst Heiden im Fleisch wart und Unbeschnittene genannt wurdet …, dass ihr in jener Zeit ohne Christus wart, ausgeschlossen von der Bürgerschaft Israels und fremd den Bündnissen der Verheißung; ihr hattet keine Hoffnung und wart ohne Gott in der Welt. Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst fern wart, nahe gebracht worden.“ (V.11-13). In diesen wenigen Versen findet eine große Umstellung im Denken und in der Sichtweise statt, weg von der ausschließenden Wahrnehmung der anderen hin zu Versöhnung und Einheit durch Christus. Und vielleicht, liebe Gemeinde, ist es ein Zufall, dass heute die Europa- und Kommunalwahl stattfindet, und jede politische Partei will beweisen, dass sie die beste Wahl für die Menschen darstellt. Es ist also eine ähnliche Logik der Konkurrenz wie die zwischen Juden und Heiden im Predigttext. Aber dann lesen wir, dass durch Christus Neuschöpfung und Versöhnung für alle möglich sind. Ist das etwas, was wir an einem solchen Tag brauchen?

 

Der menschliche Ansatz des „wir gegen sie“ ist wahrscheinlich so alt wie die menschliche Existenz auf der Welt. Selbst in der Bibel lesen wir in den sehr frühen Geschichten des Alten Testaments davon: über Kain gegen Abel, Isaak gegen Ismael, Jakob gegen Esau. Und jeder der genannten Charaktere hat seinen Stamm gegen den Stamm des anderen im Rücken. Nach Jakob geht die Geschichte mit Josef weiter, und dieses Mal lesen wir, dass sich fast alle seine Brüder gegen Josef stellen, genauer gesagt, die 10 von ihnen. Heute wollen wir über das ‚wir‘ und das ‚sie‘ zusammen nachdenken. Warum ist das so? Warum können Menschen nicht leben, ohne einen Gegner zu haben?

 

Der Verfasser des Epheserbriefes (wahrscheinlich ein Schüler des Paulus) schreibt an die Gemeinde in Ephesus, oder besser gesagt an die ‚Heiden‘ in Ephesus. Ephesus symbolisiert hier die Städte in Kleinasien, deren Hauptstadt Ephesus war. (Also wahrscheinlich war der Brief für mehrere Gemeinden in Kleinasien, dem Gebiet der heutigen westlichen Türkei, bestimmt.) Somit steht Ephesus für eine griechisch geprägte Stadt, weit weg vom Land Israel. Damals waren es die Missionsreisen des Apostels Paulus, die so weit reichten, um dort das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden. Die Gemeinde in Ephesus war also gar nicht mit der jüdischen Tradition vertraut. Und wir können uns vorstellen, wie groß der Unterschied zwischen den beiden Kulturen war: der griechischen Kultur von Ephesus mit ihren vielen Göttern und Göttinnen und der jüdischen Tradition mit ihrem Glauben an einen Gott und den vielen Gesetzen, die diesen Glauben an Gott bis ins kleinste Detail regeln.

 

Als Menschen, die einer bestimmten Gesellschaft angehören, vertrauen wir oft auf unsere unmittelbare Tradition und die Geschichte, die wir geerbt haben und die uns am nächsten steht, so dass wir glauben, dass wir keine anderen Wahrnehmungen oder Lebensansätze brauchen, und wir halten andere Menschen und andere Perspektiven sogar für eine Bedrohung oder eine Gefahr für die eigne Identität. Etwas Ähnliches war der Fall zwischen den Juden und den Heiden. Ungeachtet aller Unterschiede, die zwischen den beiden Welten bestanden, lesen wir, dass durch Christus diese zwei Welten einander nahegebracht und eins werden können.

 

Was macht Christus dann mit uns? Hebt Christus alle Unterschiede und ererbten Werte und Prägungen zwischen den Menschen auf und fordert uns auf, noch einmal ganz von vorne anzufangen? Liebe Gemeinde, Christus hebt die Unterschiede und die unterschiedlichen Werte nicht auf, aber er hilft uns, aus den geschlossenen Mauern unserer Werte herauszukommen. Christus löscht unsere Vergangenheit nicht aus, aber er gibt uns eine neue Identität, indem etwas neues entsteht. Christus macht uns einen neuen Anfang möglich. Ich möchte diesen Punkt genauer erläutern. Manchmal wirken, liebe Gemeinde, unsere behaupteten Unterschiede und die Verhaltungsmuster in unserem Leben wie Schutzmauern, so dass wir gar nicht erst die Erfahrung machen können, was diese Werte überhaupt sind, weil diese bereits da sind. Wir halten also an ihnen fest, aber mit der Zeit wird uns nicht bewusst, dass sie ihre Bedeutung für uns verlieren und uns zu Anhängern von nichts wirklich Wichtigem machen. Manchmal funktionieren Gesetze auf diese Weise. Sie sind da, damit wir das Problem nicht neu überdenken müssen. Das kann zwar seine Vorteile haben, aber das bedeutet nicht, dass wir selbst nicht denken müssen. Glauben Sie mir, liebe Gemeinde, die Vorstellung, dass andere etwas für uns getan haben, so dass wir uns nicht mehr um das Problem kümmern müssen, ist eine Illusion.

 

In diesem Sinne ist es Christus, der die Menschen miteinander und mit Gott versöhnt. Im Predigttext: „denn durch ihn haben wir beide den Zutritt zu dem Vater in einem Geist.“

 

Aber was bedeutet es, zu Christus zu kommen, wenn wir so sehr mit unseren eigenen konkreten Realitäten in der Welt beschäftigt sind (ähnlich wie die Eingeladenen zum Abendmahl in dem Gleichnis, von dem wir in der Schriftlesung gehört haben, die die Einladung ablehnen, weil jeder seine eigene Beschäftigung hatte)? Ich möchte heute dieses Kommen zu Christus in zwei Schritten beschreiben. Um zu Christus zu kommen, müssen wir zuerst aus unseren ererbten Werten und Mustern in unserem Leben herauskommen. Herauskommen bedeutet nicht, sie für falsch zu halten, sondern sich von ihrem Einfluss zu lösen, um sie von einem neuen Standpunkt aus betrachten zu können. Wir bringen diesen Gedanken zum Ausdruck, wenn wir über das Kreuz Christi sprechen. Auch er hat seine Familie verlassen, um der Eckstein für eine größere Familie zu sein. Und hier kommt der zweite Schritt. Das ist das, was wir neue Schöpfung nennen. Es ist wie der Moment der Taufe, durch den wir das Alte loslassen, damit ein neues Leben möglich wird. Dies ist vergleichbar mit dem Tragen von Kleidung. Wenn wir klein sind, wählen andere für uns aus, was wir tragen sollen. Aber wenn wir erwachsen werden, wollen wir selbst entscheiden, was wir anziehen. Darum sollen wir die alten Kleider ablegen und die neuen anziehen. Das Herauskommen aus dem Alten gibt uns neues Leben. Das ist gemeint mit dem Wort ‚erquicken‘, das im heutigen Wochenspruch vorkommt. Christus gibt uns die Möglichkeit, die Dinge anders und auf eine völlig neue Weise zu sehen. Wir werden Mitglieder einer Familie, für die wir keine Rivalität und Gegner brauchen. Der ganze Kampf, sich gegen einen anderen zu beweisen, ist durch Christus überwunden. In Christus gibt es keine Juden und keine Heiden. Christus schenkt uns eine Identität, in der sich niemand als Gast oder Fremdling fühlt, sondern als Mitbürger und Gottes Hausgenosse.

 

In ihm werden Juden und Heiden einen neuen gemeinsamen Zugang zum himmlischen Vater haben. Diese Harmonie oder Einheit in Christus ist somit das Ergebnis der Veränderung der beiden Seiten, sodass Jeder sich bemühen soll, das, was ihn hindert, hinter sich zu lassen und zu Christus zu kommen.

 

Wenn wir, liebe Gemeinde, zu Christus kommen, geben wir ihm die Gelegenheit, uns neu zu machen. Aber dieses Neue, das er aus uns macht, sind „wir“, sind mit einem Wort, das befreite „wir“. Dennoch sagt uns der heutige Predigttext, dass die Fremdheit des Menschen nicht aus eigener Kraft überwunden werden kann, sondern durch Christus, und damit ist der erste Schritt gemeint, nämlich der Notwendigkeit, alles hinter sich zu lassen.

 

Diese neue Wirklichkeit in Christus beginnt hier in der Welt, wenn auch nur zum Teil. Aber wir wirken jedes Mal darauf hin, wenn wir Christus erlauben, uns zu verwandeln und neu zu machen. Liebe Gemeinde, Gott ist der Gastgeber für alle Menschen. Und die Einladung von Christus ist eine offene Einladung für uns alle. Es ist eine Einladung zu einer neuen Schöpfung, zu einem neuen Leben in Christus. Diese Einladung ist ständig aktiv, und sie kommt jeden Tag zu uns, wenn wir bereit sind, sie zu berücksichtigen.

 

Und so lautet der Wochenspruch aus Matthäusevangelium (11,28):

 

„Kommt her zu mir, alle, die mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Amen.

 

 

 

Sylvie Avakian

09.06.2024