„die Berge mögen weichen“
(Jesaja 54,7-10)
Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen; aber mit großer Barmherzigkeit werde ich dich sammeln. In überwallendem Zorn habe ich einen Augenblick mein Angesicht vor dir verborgen; aber mit ewiger Gnade will ich mich über dich erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. Und das soll mir sein wie die Wasser Noahs: Denn wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs nie mehr die Erde überfluten sollen, so habe ich geschworen, dass ich nie mehr über dich zornig werden noch dich schelten werde. Denn die Berge mögen weichen und die Hügel wanken, aber meine Gnade wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht der HERR, dein Erbarmer.
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Jesaja 54 gehört zum zweiten Teil des Buches des Propheten Jesaja, welcher geschrieben wurde, als das Volk Israel im 6. Jahrhundert vor Christus im babylonischen Exil verbannt war. Dieses ganze Kapitel beschreibt den Schmerz Israels im Exil und ist an eine Frau gerichtet. Im Vers vor dem Predigttext lesen wir: „Denn wie eine verlassene und im Geist bekümmerte Frau wird der HERR dich rufen, wie die Frau der Jugendzeit, wenn sie verstoßen ist.“ (V.6) Ungeschönt wird in Worte gefasst, wie sich es anfühlt, im Elend zu sitzen, recht- und schutzlos da zu sein. Doch gerade dort, inmitten von Schmerz und Trubel kommt der Aufruf, sich zu freuen: „Freue dich, du Unfruchtbare, die du nicht geboren hast! Brich in Jubel aus und jauchze, die du nicht in Wehen lagst! … Erweitere den Raum deines Zeltes und dehne die Zeltdecken deiner Wohnungen aus; spare nicht, spanne deine Seile weit aus und befestige deine Pflöcke …“ (V 1-2).
Aber wie kann man sich inmitten von Schmerz und Leid freuen? Wie kann man weiterhin vertrauen, wenn das, was man über Jahre hinweg für felsenfest gehalten hat, nun ins Wanken gerät? Als Antwort kommt der heutige Predigttext: „Einen kleinen Augenblick habe ich dich verlassen; aber mit großer Barmherzigkeit werde ich dich sammeln.“ Wie sollen wir denn dies verstehen? Sind alle unsere Schwierigkeiten nur von kurzer Dauer und der Schutz und die Barmherzigkeit Gottes immer groß? Wie kann uns denn Gott beschützen?
Wenn wir sagen, liebe Gemeinde, dass Gott unser Schutz ist, meinen wir, dass „nur“ Gott uns beschützen kann und dass in Momenten, in denen jeder physische oder irdische Schutz versagt, Gott uns beschützen und behüten wird. In anderen Worten, es ist unsere Schutzlosigkeit, der wir vertrauen können und die selbst unsere Stärke ist. Das klingt ziemlich schwer zu akzeptieren. Um diese Behauptung zu verstehen, müssen wir zwischen dem Schutz, den uns die Welt bieten kann, und dem Schutz, den Gott uns gewährt, unterscheiden. Gott schützt unsere Herzen und unseren Geist vor Gefahren. Gott rettet unsere Seele, damit sie in Gott zur Ruhe kommen kann. Gott hilft uns in der inneren Tiefe unseres Selbst, damit wir nicht zittern, nicht wanken, nicht zagen, nicht verzweifeln. Es ist dieser Schutz und diese Bewahrung Gottes, die uns vor allen Bedrohungen und Unwägbarkeiten des Lebens aufrecht stehen lässt. In diesem Sinne ist der Schutz Gottes immerwährend. Er hat kein Ende, und kein noch so großes und schweres Unglück in dieser Welt kann ihn erschüttern. Alle Mühen des Lebens scheinen klein zu sein im Vergleich zu der Gnade und Bewahrung Gottes, die uns im Herzen zuteilwird.
Auch wenn der Fall des Königreichs und das Exil wie ein überwältigender Zorn erscheinen, ist das nur vorübergehend. Der Friedensbund wird unzerstörbar sein, wie der Bund, der mit Noah nach der Sintflut geschlossen wurde. Die unerschütterliche, beständige Bewahrung Gottes ist das innere Band des Friedensbundes.
Und in diesem Sinne lesen wir weiter in Vers 10 des Predigttextes: „Denn es mögen die Berge wanken und die Hügel schwanken, aber meine Gnade weicht nicht von dir, und mein Bund des Friedens wankt nicht, spricht der Herr, dein Erbarmer.“
Diese Aussage wird gemeinhin und zu Recht so verstanden, dass die Bewahrung und der Friede Gottes uns nicht verlassen werden, auch wenn Berge wanken und Hügel sich bewegen. Heute möchte ich diese Erklärung des Verses noch etwas verschärfen und sie so verstehen, dass sie uns sagt, dass die Bewahrung und der Friede Gottes in unserem Leben vor allem dann gegenwärtig sind, wenn die Berge wackeln und die Hügel verschwinden; die Berge und die Hügel, auf die wir immer vertraut haben. Welches sind die Berge, die uns in unserem Leben umgeben, innerhalb deren Grenzen wir uns sicher fühlen; Berge, ohne die wir uns ein Leben nicht vorstellen können?
Auf persönlicher Ebene kümmern wir uns normalerweise um unsere persönliche Sicherheit, damit nichts Böses von außen zu uns kommen kann. Und diese persönliche Sicherheit wirkt wie die Berge, die unser Leben umgeben und uns schützen. Als Gläubige haben wir auch unsere eigenen Überzeugungen und Vorstellungen, denen wir vertrauen und an denen wir festhalten. Auf der politischen Ebene versuchen Großmächte immer, immer mehr Länder unter Kontrolle zu bringen, Friedensverträge so abzuschließen, dass der eigene Profit gesichert ist. Das war schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte der Fall. Ein Großreich nach dem anderen steigt zur Macht auf und fällt dann, so dass ein anderes Großreich die Macht übernimmt, und das alles auf Kosten anderer Länder und anderer Menschen, die entweder nicht kämpfen wollten oder meistens nicht kämpfen konnten, weil ihnen die Mittel zum Kampf fehlten.
Erst, liebe Gemeinde, wenn Berge und Hügel verschwinden, kann der Mensch Gott, Gottes Bewahrung und Frieden ganz vertrauen. Die Bewahrung und der Friede Gottes versprechen uns keine Berge und Hügel, keine Garantien um uns herum zu errichten, die uns vor Gefahren schützen können. Hier in der Welt verstehen und wollen wir den Frieden anders, als man sich den göttlichen Frieden vorstellen könnte. Ein Beispiel für diesen Unterschied zwischen dem Frieden der Welt und dem Frieden Gottes wird uns im Leben und Sterben Jesu vor Augen geführt.
Als Jesus geboren wurde, war Palästina Teil des Römischen Reiches, das 27 v. Chr. gegründet wurde. Das Römische Reich umfasste große Gebiete. Am Ende des ersten Jahrhunderts reichte das Reich von Spanien und Nordafrika im Westen bis zum heutigen Syrien, Jordanien, Teilen Ägyptens, des Irak und Saudi-Arabiens im Osten sowie der Türkei und Armenien im Nordosten. Wie alle Großmächte tat auch das Römische Reich alles, um den Frieden innerhalb seiner Grenzen zu sichern.
Aus dem Neuen Testament wissen wir, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten Jesus töten wollten. Aber vielleicht ist uns nicht so bewusst, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten die besondere Bedeutung des Friedens im Römischen Reich gegen Jesus einsetzten.
Die Pax Romana (lateinisch für römischer Friede) begann mit der Gründung des Römischen Reiches und dauerte 200 Jahre lang. Diese Jahre werden üblicherweise als ein goldenes Zeitalter des anhaltenden römischen Friedens und der Ordnung, der Stabilität und des Wohlstands beschrieben. Als die Pharisäer beschlossen, Jesus zu töten, gingen sie zu Pilatus, dem damaligen römischen Statthalter von Judäa. Sie baten ihn, Jesus zu verurteilen und beschuldigten ihn, sich als König der Juden auszugeben, Revolten anzuzetteln und zu versuchen, die römische Herrschaft und den Frieden im Lande zu stürzen. Eine solche Anschuldigung würde als Hochverrat gelten, da sie eine direkte Anfechtung der römischen Autorität darstellte.
Ist es nicht seltsam und tragisch, liebe Gemeinde, dass Jesus das Opfer eines bestimmten Verständnisses von Frieden war? Er, der Friedensfürst genannt wurde, war das Opfer des römischen Friedens in dieser Welt. Der Friede, den die Welt sucht, ist nicht der Friede, den Jesus zu uns bringt. Der Friede der Welt wird auf Kosten des Lebens der Menschen hergestellt, so wie er das Leben Jesu gekostet hat. Der Friede der Welt wird um den Preis der Freiheit, der Liebe, des Lebenssinns und der Hoffnung hergestellt. Im Gegensatz dazu ist der Friede Jesu dort, wo alle Garantien verschwinden, die Berge wackeln, sogar unsere Überzeugungen erschüttert werden, so dass wir nichts anderem mehr vertrauen als Gott und uns nichts anderes bleibt als der Friede, der in unser Herz kommt und dort für immer herrscht.
Es ist unsere Wehrlosigkeit gegenüber Wind und Regen, Sturm und Flut, gegenüber allen Gefahren und Bedrohungen, die uns frei macht, die uns Frieden schenkt. In diesem Sinne schreibt Reiner Maria Rilke: „was uns schließlich birgt, ist unser Schutzlossein“.
Liebe Gemeinde, setzen Sie Ihr Vertrauen und Ihre Hoffnung nicht auf Dinge und Vorstellungen dieser Welt, nicht auf Mächte, nicht auf Berge, nicht auf Hügel, denn der Friede der Welt ist von kurzer Dauer, der Friede aber, den Gott uns schenkt, währt ewig. Amen.
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Komm und sammle uns, Gott.
Komm und sammle uns durch deine
große Barmherzigkeit.
Verbirg dein Angesicht nicht vor uns,
lass uns nicht allein, wenn wir Not und Schmerz überwinden müssen,
die Mühen und die Verluste in diesem Leben.
Komm mit deiner Barmherzigkeit
und hilf uns.
Gott, sei nicht zornig auf uns
und tadle uns nicht,
denn du kennst unsere Herzen,
du weißt, dass wir dir in allem vertrauen wollen...
in jedem Augenblick.
Aber manchmal scheitern wir,
weil wir nicht stark genug sind.
Wir sorgen uns um Dinge
Um die wir uns nicht sorgen sollten
und wir fürchten uns vor dem Verlust von Dingen, vor der Erschütterung der Berge um uns herum.
Hilf uns, Gott, dir immer zu vertrauen,
uns nach deinem Frieden zu sehnen und für ihn zu handeln.
Denn die Berge mögen weichen
und die Hügel vergehen,
aber deine beständige Gnade wird nicht von uns weichen,
und dein Bund des Friedens wird nicht zerbrechen.
Gott, schenke deinen Frieden unseren Familien und Kindern
und den Kindern in der ganzen Welt.
Schenke deinen Frieden denjenigen, die Angst haben und enttäuscht sind,
die Schmerzen haben, und denen, die helfen wollen.
Schenke deinen Frieden denen, die hoffnungslos sind
und keine Vision für die Zukunft haben.
Gib dein Wort, gib Brot und Wasser für alle, die in Not sind,
und hilf uns allen, in allem auf dich zu vertrauen. Amen.