Die Liebe: Der Anfang und das Ende
(Römer 8,31b-32, 35-39)
Ist Gott für uns, wer kann gegen uns sein? Er, der sogar seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht auch alles
schenken? Wer will uns scheiden von der Liebe des Christus? Drangsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: »Um deinetwillen werden wir
getötet den ganzen Tag; wie Schlachtschafe sind wir geachtet!« Aber in dem allem überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel
noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus
ist, unserem Herrn.
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Die Liebe ist, liebe Gemeinde, der Anfang und das Ende. Vielleicht steht deshalb heute am Altjahresabend dieser Text aus dem Römerbrief für uns als Predigttext. Durch die Liebe kann ein neues Leben beginnen und in der Liebe und nur durch die Liebe kann ein Leben seine Erfüllung finden. Deshalb sagen wir, dass die Liebe, die sich im Christus offenbart hat, die Grundlage unseres christlichen Lebens und unserer Hoffnung ist. Doch wie sieht es heute mit einem Leben in Liebe aus? Ist es realistisch, dass wir unser Leben mit Liebe und für die Liebe leben?
Ein Leben mit und für Liebe soll kein einfaches Leben sein, keine reine Freude, kein endloser Frieden. Aber das Gegenteil könnte der Fall sein. Obwohl die Einladung des Evangeliums in Übereinstimmung mit der Liebe Gottes zu leben und zu sein, uns ein ehrliches, transparentes, einfaches Leben ermöglicht, liegen gerade in dieser Einfachheit und Ehrlichkeit die größten Lebensherausforderungen für uns. Das menschliche Leben in der Welt war selten einfach, transparent und ehrlich. Vielmehr war und ist das menschliche Leben bis heute meistens eher kompliziert. Die Menschen wollen ihre Ziele im Leben erreichen und sind oft bereit, Ehrlichkeit und Einfachheit zu opfern, um ihre Ziele zu erreichen. Es ist also nicht so, dass der Mensch mit Schwierigkeiten konfrontiert werden könnte, die seine Beziehung zur göttlichen Liebe beeinträchtigen oder behindern würden, vielmehr ist es so, dass der Mensch allein dadurch, dass er ein liebender Mensch ist, nämlich jemand, der in Einfachheit, Transparenz und Ehrlichkeit leben will, bereits mit Schwierigkeiten konfrontiert ist. Aber warum? Warum ist dann dieser Mensch den Schwierigkeiten des Lebens mehr ausgesetzt als andere? Aus dem einfachen Grund, dass alle anderen sich den Werten der Welt anpassen, während derjenige, der nach der göttlichen Liebe leben will, das heißt, in Einfachheit, Transparenz und Ehrlichkeit, dies nur mit großen Schwierigkeiten tun kann. Und wir können wieder fragen: warum?
Es ist so, dass derjenige, der mit der Liebe leben will, nämlich derjenige, der die Liebe im Leben entdeckt hat, gleichzeitig entdeckt hat, dass diese Liebe für ihn/sie nichts Fremdes ist. Indem man sich der Liebe nähert, entdeckt man, dass man sich selbst nähert, denn die Liebe gehört zu uns und wir gehören zur Liebe. Dies bedeutet, dass es kein Zurück mehr gibt und dass wir diese Liebe nicht mehr aufgeben wollen und nichts uns von ihr trennen könnte.
Derjenige, der mit der Liebe leben will, wird dann erkennen, dass er/sie nicht zum Chef gehört, oder der Institution, in der man arbeitet. Er/sie gehört auch nicht zu seinen eignen Abhängigkeiten im Leben. Wer mit Liebe leben will, wird auch nicht durch Krankheit, Erfolg oder Misserfolg definiert. Er/sie wird nicht den politischen Propagandaspielern oder der Werbeindustrie der technologischen Welt gehören. Er/sie wird erkennen, dass er/sie nicht die Summe seiner/ihrer Fehlentscheidungen und schmerzhaften Erinnerungen ist.
Im Gegensatz zu all dem, je mehr wir uns der Liebe nähern, desto mehr sind wir die, die wir zu werden gemeint sind. Und doch wirkt diese Liebe in uns auf zwei verschiedene Arten: Einerseits erkennen wir an manchen Stellen in unserem Leben, dass diese Liebe uns eine außergewöhnliche Kraft verleiht. Es ist eine Kraft, keine Angst zu haben, nicht zu zögern; es ist eine Kraft, zu lieben, auch um jeden Preis, und mit Einfachheit und Ehrlichkeit zu leben, ungeachtet aller Verluste. Und hier ist ein Punkt sehr wichtig: Wann immer wir der Liebe vertrauen, bedeutet das nicht, dass wir etwas außerhalb von uns vertrauen, etwas, das von außerhalb von uns zu uns kommen und uns im Moment der Schwierigkeit helfen soll, sondern genau das Gegenteil ist der Fall. Die Kraft, der wir vertrauen, ist ganz in uns, in unserem Herzen. Daher brauchen wir keine äußere Macht zu erflehen, wie es wahrscheinlich alle taten, die in der Vergangenheit an Götter glaubten. Aber genau aus dem Herzen fließt die Kraft zu lieben und zu ertragen. Daher ist es durchaus möglich, dies Selbstvertrauen zu nennen, da Gott, den wir heute Liebe nennen, in unseren Herzen geboren wird, so dass durch diese eine Liebe alle Schwierigkeiten überwunden werden. Dieses Selbstvertrauen unterscheidet sich also von der Überheblichkeit des menschlichen Ichs, denn obwohl wir es „Selbstvertrauen“ nennen, ist sein Charakteristikum die Liebe, die darin besteht, sich für den anderen hinzugeben. Es ist diese Kraft, die uns wie einen Berg stehen lässt, fest und unerschütterlich vor allem, was im Leben ins Wanken geraten könnte, sei es Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr oder Schwert. Und so haben wir in der Schriftlesung gehört:
„Gott ist unsere Zuflucht und Stärke … Darum fürchten wir uns nicht, wenn auch die Erde umgekehrt wird und die Berge mitten ins Meer sinken, wenn auch seine Wasser wüten und schäumen und die Berge zittern vor seinem Ungestüm.“
Es ist in diesem Sinne, dass wir heute den Text des Liedes „Von guten Mächten“ verstehen wollen. Dietrich Bonhoeffer dichtet diesen Text im Gefängnis zum Jahreswechsel 1944/45 aus dem Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts in Berlin, wo er wegen seines Widerstandes inhaftiert war:
Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.
Und damit kommen wir zum zweiten Aspekt, in dem die Liebe in uns wirkt, nämlich dass sie uns zerbrechlich, brüchig und schwach macht. Was für eine fast unmögliche Aufgabe in einer Welt, in der Einfachheit, Transparenz und Ehrlichkeit selten Realität sind, so dass der Mensch, der mit Liebe leben möchte, schließlich als etwas Fremdes in der Welt erscheint, etwas, das nicht passt, etwas, das nicht funktioniert. Und trotzdem ist es die Liebe Gottes, die Dietrich Bonhoeffer hilft, durchzuhalten, die ihm Kraft gibt, selbst in seinem Sterben und seinem bitteren Tod durch die Hinrichtung am 9.April 1945, kurz vor der Befreiung des Lagers.
Auf diese Weise kommen in ihm, dem Gekreuzigten, Anfang und Ende zusammen. Am Kreuz geht ein menschliches Leben zu Ende, und doch ist das Ende dieses menschlichen Lebens ein solches, das den Beginn eines neuen Lebens möglich macht. Denn es ist ein Ende, das durch die Liebe ermöglicht wird. Diese Liebe kommt zu uns in der Nacht unseres Lebens und erhellt unsere Dunkelheit. Indem wir zulassen, dass dieses Licht uns erreicht, und indem wir uns mit dieser Liebe vereinen, wissen wir, dass wir nicht allein gelassen werden, dass diese Liebe Teil von uns ist, in uns, als Hoffnung, als Licht und als neues Leben. Und ohne Liebe sind wir tot, auch wenn wir leben. Denn die Liebe ist der Geist des Lebens, sie ist sein Sinn, sein Ziel, seine Freude.
Selbst, liebe Gemeinde, wenn es den Mächten dieser Welt gelingt, unsere Pläne zu durchkreuzen, selbst wenn die Schwierigkeiten des Lebens unseren Träumen so viele Hindernisse in den Weg legen, selbst wenn Krankheit und Schmerz, Einsamkeit oder Not unser Leben angreifen, fürchten wir nichts, denn die Liebe, die keine Macht von dieser Welt ist, ist es, der wir vertrauen.
Mit dieser Hoffnung und dieser Kraft der Liebe wollen wir in diese letzte Nacht des alten Jahres und den ersten Morgen des Neuen gehen.
Wenn Gott für uns ist, wer ist dann gegen uns?
„Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermag von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Amen.