Der Ruf der Liebe
(Hohes Lied 2, 8-13)
Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir: Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!
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Dies ist, liebe Gemeinde, das zweite Mal innerhalb von 5 Wochen, dass wir an einem Sonntag eine Lesung aus dem Hohen Lied als Predigttext haben. Kaum ein anderes Buch der Bibel enthält Liebeslieder und Gedichte, die von einer Frau und einem Mann verfasst und gesungen werden, wie dieses Buch; Lieder, die Sehnsucht und Liebe ausdrücken, die beide füreinander empfinden. Aber warum Liebeslyrik in der Bibel, einem Buch, das uns helfen sollte, Gott besser zu verstehen und uns eine Hilfe, ein Licht auf unserem Glaubensweg zu gewährleisten? Die Mystiker in der Geschichte der christlichen Kirche haben die Antwort auf diese Frage gekannt: Gott kann von keiner Erfahrung wahrer Liebe getrennt werden. Gott ist in jedem Ausdruck der Liebe präsent, und wer liebt, liebt Gott in jedem, den er/sie liebt, denn Gott ist Liebe.
In diesem Sinne können wir uns ahnen: Das Glockenläuten, liebe Gemeinde, am Sonntagmorgen ist ein Aufruf zum Gottesdienst. Das Klingeln eines Mobiltelefons ist ein Aufruf zum Gespräch. Die Worte aus dem Hohelied 2,8-13 sind ein Aufruf der Liebe. Jeder Aufruf erfolgt in Erwartung einer positiven Antwort. Es wird erwartet, dass die Gläubigen zum Gottesdienst kommen, wenn sie die Glocken hören, dass die Person, die an das Mobiltelefon geht, sich auf ein Gespräch einlässt und dass der Geliebte auf den Ruf der Liebe reagiert.
Im Text begegnen uns viele Lebensbilder, und manche Bilder im Leben sagen uns mehr, als sie in Wirklichkeit zeigen; Bilder, die die Fähigkeit haben, Himmel und Erde, das Göttliche und das Menschliche, Freude und Schmerz, Leben und Tod zusammenzubringen. Das Springen einer Gazelle über die Berge und ihr Hüpfen über die Hügel ist ein solches Bild. Es weckt in uns das Gefühl von Freiheit, von Schönheit, von sanfter Kraft, von der Kraft der Eleganz. Die Blütenpracht, die auf der Erde erscheint und die Blüte der Weinstöcke, die ihren Duft verströmt, verleihen uns das Gefühl des neuen Lebens, lassen uns glauben, dass das Alte vergangen ist. Der Winter, die kalten Tage, Schmerz und Einsamkeit sind überstanden. Der Regen ist vorbei und hat sich verzogen. Und jetzt bricht ein neuer Tag an, ein neues Leben voll Liebe und Wärme.
Wenn wir das Buch des Hohen Liedes weiterlesen, merken wir, dass das Buch aus verschiedenen Szenen besteht, in denen ein Dialog, ein Gespräch zwischen der jungen Frau und dem Mann stattfindet. So ähnlich wie fast alle menschlichen Beziehungen, die auf Dialog beruhen, auf Gespräch. Man spricht ein Wort und wartet auf die Antwort des anderen. Im Buch des Hohen Liedes ruft er sie, um ihre Stimme zu hören und sie fleht ihn an, mit ihr weg zu laufen. Und dann fängt eine neue Szene an und wir lesen, dass sie getrennt sind. Sie suchen und finden sich gegenseitig und dann folgt ein neues Gespräch zwischen den beiden. Dann sind sie wieder getrennt. Und so hat man den Eindruck, dass mit jedem Kommen des geliebten Menschen Gott zu uns kommt und mit jedem Gehen und Verlassen Gott von uns geht. Wie ist dieser Satz nun zu verstehen? Ist Gottes Liebe nicht fest, ist sie nicht unveränderlich? Wie kann sie von uns gehen und dann wieder zu uns kommen? Die Liebe Gottes kommt zu uns und geht wieder, weil sie eine Liebe zwischen Gott und uns ist. Sie ist keine abstrakte Liebe, keine perfekte Idee, weit weg von uns, sondern sie ist Liebe in Beziehung zu uns Menschen. Die Liebe Gottes an sich bleibt ein Geheimnis, das wir nicht begreifen und nicht beschreiben können. Und deshalb sagen wir, dass die Liebe Gottes nicht ohne die menschliche Seite betrachtet werden kann. Erst durch Jesus Christus, den Mensch gewordenen Gott, lernen wir die Liebe Gottes kennen. In Jesus kommt Gott zu uns durch die bescheidensten Lebenssituationen der menschlichen Existenz. Durch das in der Krippe geborene Kind verstehen wir, dass die Liebe Zärtlichkeit ist, Wärme und Licht in einer kalten, dunklen Welt. Und dann verstehen wir, dass die Liebe, auch wenn sie ein Geheimnis bleibt, zugleich auch ein Gespräch ist. Der Ruf der Liebe kommt, er verlangt jedoch die Antwort des Empfängers des Rufes. Und die menschliche Antwort ist oft unvollkommen, sie ist oft nur beschränkt gut, denn unsere Liebe ist immer mit Ängsten und Sorgen verwoben, sie ist meist mit Stolz und Selbstliebe vermengt.
„Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande.“
Wie sollen wir diese Worte Mitten im Winter verstehen? Ich meine, das ist das Versprechen der Liebe. Mit und durch Liebe hoffen wir auf Licht und auf einen neuen Anfang, hoffen wir auf den Sommer und auf die Wärme.
Jesus erwartete auch von seinen Jüngern Liebe und Wachsamkeit. Er forderte, dass die, die er liebte, auch ihn lieben und auf sein Kommen warten. Und so fragte er einmal Petrus, nach seinem Fall: „Liebst du mich mehr als diese?“ Ein Gespräch der Liebe erfordert dann Achtsamkeit. Das ist auch bei unserer Liebe zu Gott so. Es geht nicht um bloßen Gehorsam und das Ausüben einiger Disziplinen. Die Liebe erfordert Wachsamkeit und das Warten auf den anderen.
Eins können wir noch zum Text sagen. Es ist bemerkenswert, dass der Liebende seine Geliebte zweimal als „schöne“ bezeichnet. Wie sollen wir das Wort „schön“ hier verstehen?
Der russische Schriftsteller Dostojewski behauptete, dass derjenige, der liebt, den anderen so sieht, wie Gott ihn gemeint hat. Es ist im liebenden, erkennenden Blick des anderen, dass Menschen schön werden, so werden, wie sie von Gott gemacht wurden. In diesem Sinne erhebt uns die Liebe, verwandelt uns und bringt uns zurück zu Gott. So gesehen, ist die Liebe ein übermenschliches Ding, sie ist ein Geschenk Gottes und dennoch geheimnisvoll.
Vielleicht doch als Letztes, stellen wir fest, dass die beide Liebenden im heutigen Predigttext nicht vereint sind. Da ist eine Mauer zwischen ihnen, sie sehen sich an den Fenstern, schauen sich durch das Gitter an. Die Begegnung ist eine Begegnung der Augen. Wer liebt, kann warten und notfalls auch rennen, kann sitzen, aber auch springen wie eine Gazelle. Das ist auch unsere Haltung in der Adventszeit. Gott ist bereits hier, hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter. Wir können Gott nicht sehen, aber wir können der Ruf der Liebe hören. Wir wollen aufbrechen und uns auf den Weg machen, auf den Weg zu dem Mensch gewordenen Gott. Wir wollen die Mauern, die Hindernisse überwinden. Was steht zwischen uns und Gott? Was hindert uns daran, zu Gott zu kommen und Gott in unserem Leben zu empfangen? Was hindert uns daran, in Gottes Angesicht die Menschen zu werden, wie wir von Gott gemeint sind?
Jetzt ist die günstige Zeit. Theresa von Avila, die Mystikerin des 16.Jahrhunderts schrieb:
„Ich möchte,
dass ihr nur dieses eine begreift:
Es geht auf diesem geistlichen Wege
nicht darum, viel zu denken,
sondern viel zu leben.
Was am meisten Liebe
in euch weckt, das tut.“
Und im 17.Jahrhundert schrieb der Mystiker Angelus Silesius:
Liebe, die du mich zum Bilde
Deiner Gottheit hast gemacht,
Liebe, die du mich so milde
Nach dem Fall hast wieder bracht.
Liebe, dir ergeb ich mich,
Dein zu bleiben ewiglich.
Amen.